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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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schweben. Mein Blick fällt auf einen riesigen Wattebausch mitten in der Voliere. Entweder hat die Vogelfrau eine Wolke vom Himmel abgehängt, oder sie hat ein Faible für Abschminkwatte. Die Federn am Boden rascheln, dabei ist es völlig windstill. Spukt es in der Voliere vielleicht tatsächlich? Ehrlich gesagt würde ich mich mit Victor an meiner Seite sicherer fühlen.
    Ich nähere mich der prächtigen Haufenwolke und stelle fest, dass es ein Nest ist, in dem ein Dutzend Eier liegen. Sie sind handbemalt, offenbar mit Lippenstift. Über meinem Kopf höre ich ein leises metallisches Quietschen. Das Geräusch wird lauter, wie aus dem Nichts kommt plötzlich ein Wind auf. Ich lege den Kopf in den Nacken und entdecke direkt über mir eine Korbschaukel. Eine vertraute Gestalt schwingt ins Licht und zurück in die Dunkelheit wie ein Vogelgespenst.
    Ein hautenger Federanzug schmiegt sich an ihren Körper, eine Kapuze umrahmt ihr Gesicht. Sie sieht aus wie Rotkäppchen, das sich als Vogelweibchen verkleidet hat. Ihre Hände stecken in schwarzen Samthandschuhen. Plötzlich verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, sie zu berühren. Ich trete einen Schritt vor. Ihr sinnlicher Mund blinkt wie ein Leuchtturm in der Nacht. Flügelrascheln, die Korbschaukel schwingt langsamer, mein Herz schlägt schneller. Auf ihrer linken Schulter sitzt ein roter Kanarienvogel. Ich trete noch etwas näher. Die langen Federn an ihren Armen strecken sich zu majestätischen Flügeln.
    »Sie sind aber ganz schön hartnäckig«, sagt sie von ihrer ausschwingenden Schaukel aus. Ihre Stimme klingt so, wie ich sie in Erinnerung habe: warm, aber reserviert.
    »Ich wollte mich bei Ihnen für die Flügel bedanken«, sage ich und wedele unbeholfen mit den Armen.
    »Gern geschehen. Sie tragen sie mit eleganter Komik.«
    »Das heißt?«
    »Dass Sie an der Eleganz noch arbeiten müssen.«
    Die Vogelfrau droht mir den Kopf zu verdrehen. Den Hals verrenkt hat sie mir jedenfalls schon. Meine Nackenmuskeln werden von ihrer Schaukel ferngesteuert. Ihr von zartem Flaum umrahmtes Gesicht zieht mich in seinen Bann. Es ist so ausdrucksstark, dass sie keine Worte braucht, um sich mir mitzuteilen. Ich bin die Treppe hochgegangen, um mehr über diese himmlische Sirene herauszufinden, aber jetzt will ich nur noch bis zum Sonnenaufgang ihrem hin- und herschwingenden Mund zuschauen. In der Ferne rasen Lastwagen über die Autobahn, das Rauschen dringt wie aus einer anderen Welt zu mir herauf.
    Die Vogelfrau steigt von der Schaukel und kommt auf mich zu. Sie vergewissert sich, dass meine Flügel richtig sitzen.
    »Möchten Sie fliegen lernen, Tom Cloudman?«
    Einen Moment lang denke ich, dass sie sich über mich lustig macht, aber als ich sehe, dass sie ernst bleibt, antworte ich:
    »Ihr Federkleid ist umwerfend, viel überzeugender als mein Kostüm. Ich will mit meinen Flügeln ein Kind, das in diesem Krankenhaus lebt, zum Träumen bringen. Warum verkleiden Sie sich?«
    Flügelrascheln. Die Vogelfrau zieht an ihrer Zigarette. Die Lider verschlucken ihre Pupillen, als würde im Puppentheater der Vorhang zugezogen. Sie streckt die Arme seitlich aus, geht in die Knie, drückt das Kreuz durch und stößt sich mit ihren schwindelerregenden Absätzen vom Boden ab. Sie schlägt elegant mit den Flügeln und wirbelt den Zigarettenrauch auf. Dem Mond stockt vor Verliebtheit der Atem. Die Sterne neigen sich neugierig zu ihr herunter und stoßen sich an der Kante des Krankenhausdachs. Die Vogelfrau kreist einmal über mir. Während sich der Zigarettenrauch verflüchtigt, kommt sie wieder zu mir herabgeschwebt und landet geräuschlos auf dem Federteppich. Ihre Augenlider flattern wie Schmetterlinge. Aus Angst, ich könnte aus diesem wunderschönen Traum erwachen, halte ich die Luft an. Die Vogelfrau hat sich plötzlich in sich selbst zurückgezogen, sie wirkt zerbrechlich wie ein Champagnerglas inmitten eines Erdbebens.
    »Das ist keine Verkleidung«, flüstert sie und schlägt die Augen nieder.
    Mir dröhnt der Schädel wie einem Boxer nach dem K. o. Ich setze mich auf den Boden. Trotzdem habe ich das Gefühl zu fallen. Ich muss eine ganze Weile vergessen haben zu atmen. Ein Schluckauf durchzuckt mich wie ein Wackelkontakt.
    »Also? Wollen Sie fliegen lernen oder nicht?«
    Ich nicke und beginne zu zittern, was die Vogelfrau offensichtlich lustig findet.
    »Ich biete Ihnen ein Tauschgeschäft an. Wenn Sie sich darauf einlassen, kann ich Ihnen ein zweites Leben schenken.«
    »Wollen Sie

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