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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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eine Spritze gegeben haben? Massensterben um sechs Uhr morgens, überall auf den Fluren lägen Leichen im weißen Kittel. Miss Morphina wiegt mich sanft im Arm und beschützt mich vor der Roten Bete. Sie jagt mir eine Dosis künstlichen Himmel durch die Adern, ich werde zu einem Vogel aus Watte. Der Schmerz vergeht, mein Körper zerfällt aufs Angenehmste in seine Einzelteile. Der warme Atem der Ärztin streicht über mein Gehirn und lässt weiße Federn durch das Labyrinth meiner Adern strömen. Ich bin das Bett, meine Haut ist das Laken. Miss Morphina leckt an meinen weißen Blutkörperchen, durch meine Adern fließt Milch statt Blut. Ich bin schwanger, ich werde ein Ei legen, ein Ei, in dem ich mich selbst verstecke. In einem Korb voller Ostereier kann die Rote Bete mich nicht finden!

unkelheit umhüllt mich, als ich die Treppe hochschleiche und darauf achte, keine Spuren zu hinterlassen. Mir geht es wie einem Dieb, der auf Träume spezialisiert ist: Ich muss immer mindestens so viele davon stehlen, dass ich den nächsten Tag überstehe. Aus der Voliere weht Gezwitscher zu mir herunter. Mit jeder Stufe wird es lauter, ein wahres Pfeifkonzert. Ich schiebe die schwere Falltür auf, sie knarrt wie die Gelenke eines Riesen. Oben fällt mein Blick auf einen kleinen roten Konzertflügel, dessen Deckel offen steht. Auf den Filzhämmerchen sitzen der Größe nach geordnet ein Dutzend Kanarienvögel und wippen mit dem Kopf. Endorphinas Engelspo wiegt auf dem gepolsterten Klavierhocker hin und her. Ihre Finger streicheln die Tasten, ihre Füße treten die Pedale. Jeder Anschlag bringt einen anderen Vogel zum Singen. Mein Blick versinkt in den Federn an Endorphinas Hüften.
    Sie beginnt zu singen und begleitet sich auf dem Vogelklavier. Ihre Stimme fährt Achterbahn, flüstert, kreischt, schreit. Eine Vogelarie in a-Moll. Sie spielt immer schneller und greift immer heftiger in die Tasten. Die Kanarienvögel flattern erschreckt auf. Als alle ihren Platz verlassen haben, singt Endorphina a cappella weiter, außer ihrer Stimme ist nur noch das Flügelschlagen zu hören. Plötzlich verstummt sie. Die Vögel lassen sich wieder auf den Filzhämmerchen nieder. Sie strafft die Schultern, tritt mit einer eleganten Drehung des Absatzes ihre Zigarette aus und wendet sich mir zu.
    »Ich habe jedem Vogel beigebracht, einen bestimmten Ton zu trällern. Allerdings neigen sie manchmal zum Improvisieren. Ihr Gesang ist ungefähr so melodisch wie der von wilden Vögeln kurz vor Sonnenaufgang. Wenn Sie lernen wollen, so selbstverständlich zu fliegen, wie diese Vögel singen, müssen Sie es ihnen gleichtun. Das ist Ihr erster Schritt auf dem Weg zu einem neuen Leben.«
    »Sie wollen mich in ein Klavier sperren und auf Tastendruck singen lassen?«
    »Das wird nicht nötig sein. Aber singen ist eine gute Vorübung fürs Fliegen. Gesangsübungen trainieren die Atmung und das Zwerchfell. Beim Singen entspannt man sich und konzentriert sich ganz auf das, was man erreichen will.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Beim Singen öffnet man sich allen möglichen Gefühlen und vergisst darüber trotzdem nicht, den Ton zu treffen und einer Melodie zu folgen, oder?«
    »Ja …«
    »Tja, beim Fliegen ist es genauso. Nur dass man keine Noten singt, sondern einer Partitur der Lust folgt.«
    »Was bedeutet das?«
    »Man muss ganz fest daran denken, was einem guttut, was einem am wichtigsten ist oder was man am liebsten tun würde … Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
    Endorphina steckt sich eine Camel light zwischen die rubinroten Lippen und stößt ein Playmobil-Wölkchen aus. Ich will eine Camel light sein. Zwischen ihren Fingern hin- und herrollen, ihren Prinzessinnengaumen berühren, mich in Rauch auflösen, ihre Luftröhre hinabströmen, von innen ihre Brüste streicheln und dann als Teerblume in ihrer Lunge erblühen.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ja. Ich habe nur schon mal geübt, mich einem Gedanken hinzugeben, der mich abheben lässt.«
    »Möchten Sie eine Zigarette?«
    »Nein, danke, ich rauche nicht.«
    »Schön. Und jetzt passen Sie auf.«
    Sie schlägt eine Taste an, und einer der Vögel beginnt zu zwitschern. Die Vogelfrau bewegt ihre feingliedrigen Finger auf den Sänger zu und streichelt ihn. Sie fängt unter dem Schnabel an und wandert nach unten. Der Stelle zwischen den Beinen widmet sie sich ausführlich. Der Vogel trällert ein kräftiges Tremolo, setzt einen passenden zweiten Ton hinzu und rutscht dann eine Oktave höher, während ihre Bewegungen

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