Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
aus Papier und lässt mich spüren, wie schön es ist, am Leben zu sein. Aber schon nach fünfzig Schritten bremst mich die kleinste Brise aus. Ich muss mich auf eine Bank setzen. Hier bleibe ich bis zur Dämmerung. Die anderen Todeskandidaten sind längst auf ihren Zimmern und üben, im Bett zu sterben. Gleich werde ich ihrem Beispiel folgen. Ein letzter Blick noch in den wolkenlosen Himmel.
Da fällt mir eine rote Feder vor die Füße. Ich hebe sie auf, sie sieht genauso aus wie die Federn aus meinen Kissen. Eine zweite Feder landet auf meinem Kopf. Ich blicke hoch und sehe rote Daunen in Zeitlupe auf den Park regnen. Es ist, als blute der Himmel. Kein Zweifel, das Federgestöber kommt vom Krankenhausdach. Was ist da oben los? Rupft da jemand Vögel? Das muss ich mir aus der Nähe ansehen.
Hinter meinem Zimmerfenster dehnt sich die Nacht, während ich darauf warte, dass die Luft rein ist. Als ich den Tropf ausstecke, jagt mir das »Klick« einen Schauer über die Schulterblätter. »Klick«, ein Geräusch der Freiheit und des Todes. Seltsamerweise hat man einen klareren Blick auf das Leben, wenn der Knochenmann und sein Schattengefolge näher kommen. Ich sollte auf meine attraktive Ärztin hören und im Bett bleiben, vom Tropf an der kurzen Leine gehalten. Insgeheim weiß ich, dass sie recht hat. Aber ich merke auch, wie die Zeit immer schneller verrinnt, ich spüre es bei jeder Bewegung.
Also schwebe ich wie ein ungebügeltes Gespenst ins Treppenhaus. Das Geräusch des Fahrstuhls hätte mich verraten, deshalb mache ich mich zu Fuß an den Aufstieg. Vier Stockwerke sind es bis zum Dach und seinem tiefroten Geheimnis. Ein wütender Wind schleudert die Schatten der Pinien durch die Fenster, als wollte er mich zum Umkehren zwingen. Meine Schritte hallen von den Wänden wider, die Nacht krallt ihre eisigen Finger in meinen Schlafanzug. Am Ende stoße ich auf eine metallene Leiter wie im Schwimmbad. Liebend gern würde ich mich kopfüber in den Himmel stürzen, um der guten alten Zeiten willen. Ich klettere die Leiter hoch, öffne eine knarrende Falltür und bin auf dem Dach. Ich traue meinen Augen kaum.
Eine gigantische Voliere! Ein Federnpalast! Ich stehe in einem riesigen Käfig mit mehreren Erkern, in denen unzählige Kanarienvögel schlafen, den Schnabel unter die Flügel geschoben. Alle erdenklichen Rottöne entflammen die Nacht. Ich trete einen Schritt vor und bemerke, dass die Voliere zu einer Seite hin offen ist – eine Schwelle zum Himmel. Meine Füße versinken in einem weichen Teppich. Federn streicheln meine Haut. Ein Windstoß klappt meine Flügel um wie einen alten Regenschirm. Fast verliere ich das Gleichgewicht, aber ich bin viel zu fasziniert, um Angst zu haben. Für kurze Zeit erhellt ein Lichtstrahl aus der Ferne die nächtliche Szene. Mein Herz schlägt nicht mehr, es tanzt. Ich mache noch einen Schritt. Auf einem eiförmigen Häuschen in einer Ecke hocken zwei große Blechvögel inmitten der echten Tiere. Als ich näher trete, entfalten sie ihre Flügel unter Revolvertrommelklicken. Ein paar Sekunden lang stehe ich da wie erstarrt. Die Aufziehvögel sind lustig, aber auch gruselig. Die falschen Vögel haben die echten geweckt, und diese breiten nun ebenfalls die Flügel aus, öffnen die Stecknadelaugen und zwitschern wild durcheinander. Sie flattern auf, formieren sich zu einem Geschwader und umkreisen mich. Ihre Schreie werden immer schriller, die Kreise immer enger. Flügelspitzen streifen mich, und Schnäbel stoßen nach mir, als wollten auch sie mir Spritzen setzen. Ich weiche zurück, stolpere, hänge plötzlich über dem Abgrund. Weit unten sehe ich die weißen Streifen des Parkplatzes. Die Schnabelspritzen tun weh. Mein linker Fuß rutscht von der Dachkante, mein rechter Fuß tritt ins Nichts. Ich schlage mit den Armen, als hätte ich echte Flügel. Vergeblich. Ich falle.
Da packt jemand sanft meinen Arm, eine zweite Hand greift meine Schulter. Jemand zieht mich zurück aufs Dach. Keuchend liege ich inmitten der Federn auf dem Boden.
»Es ist gefährlich, hier oben herumzuspazieren«, höre ich eine Stimme neben mir sagen. In der Dunkelheit ist die Gestalt kaum zu erkennen, es sieht aus, als wäre sie von Kopf bis Fuß mit Federn bedeckt. Sie duftet schwach nach Röstkastanien und frisch geschnittenem Gras.
Ich versuche zu antworten, aber vor Verblüffung bringe ich nur bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Sätze heraus. Meine Worte sind Puzzleteile, die partout nicht
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