Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
zusammenpassen.
»Die Vögel wollen Ihnen nichts Böses«, unterbricht mich meine Retterin. »Sie sind nur den Eiern zu nahe gekommen.«
»Wer sind Sie?«
»Diejenige, die Ihnen jetzt rät, schleunigst in Ihr Zimmer zurückzukehren. Es ist kurz vor sechs, Aschenputtel!«
»Sie … passen auf mich auf?«
»Und genau deshalb müssen Sie jetzt gehen.«
Widerstrebend verlasse ich diesen verwunschenen Ort, kehre in mein Zimmer zurück und krieche im allerletzten Moment unter die Decke. Ich habe gerade den Tropf eingesteckt, als die Neonsonne aufflammt.
Ausnahmsweise bin ich froh, ans Bett gefesselt zu sein. So kann ich wenigstens ungestört von der Schwelle zum Himmel träumen. Die Aussicht, dass ich jederzeit dorthin zurückkann, versüßt mir den Tag. Ich muss unbedingt mehr über die Voliere und ihre geheimnisvolle Bewohnerin herausfinden.
So fest ich meine Augen auch verschließe, um den Traum in Rot festzuhalten, er verflüchtigt sich. Ich muss mich wieder dem heimtückischen Gewächs stellen, das in meinem Innern wuchert. Die Rote Bete hat geduldig auf mich gewartet. Ich stelle mir vor, wie sie einen hämischen Blick auf das Krankenblatt wirft, auf dem jeden Tag meine Werte notiert werden.
Jemand klopft an die Tür. Es ist Pauline, meine Krankenschwester, die so engstirnig ist, dass sie manchmal gemein wird. Sie trägt einen großen weißen Karton mit einer granatapfelroten Schleife. Es ist ungewohnt, sie mit etwas so Schönem zu sehen. Sie stellt das Geschenk neben mir auf dem Bett ab und lächelt unergründlich. Langsam wie ein alter Mann setze ich mich auf, löse die Schleife und hebe den Deckel an. Der Karton ist randvoll mit roten Federn gefüllt. Ich tauche erst die Hände hinein, dann die Arme bis zu den Schultern. Ein Stück Himmel vom Zimmerservice. In der Hoffnung, eine Nachricht zu finden, wühle ich in den Federn herum und stoße auf etwas Kaltes, Hartes. Ich lege ein nagelneues Flügelskelett mit mechanischen Gelenken frei. Die Flügel sind etwa doppelt so lang wie meine Arme. Mein inneres Kind macht Freudensprünge wie an Weihnachten. So glücklich war ich seit Jahren nicht mehr.
»Guten Abend, Tom. Wie geht es Ihnen heute?«, fragt meine Ärztin. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie ins Zimmer gekommen ist.
Ich versuche vergeblich, die Flügel unter der Decke zu verbergen und mir das glückliche Grinsen vom Gesicht zu wischen. Ich huste, um meine Glaubwürdigkeit als Todeskandidat zu unterstreichen.
»Sie müssen Ihre Flügel nicht verstecken.«
»Ich habe keine Lust, sie wieder völlig verbogen aus dem Mülleimer ziehen zu müssen.«
»Solange Sie Ihren Tropf in Ruhe lassen, dürfen Sie die Flügel tragen.«
ch bin bereit. Ich habe den ganzen Nachmittag hart gearbeitet. Ich habe nicht mal gemerkt, wie es dunkel geworden ist. Ich habe Federn, Federn und noch mehr Federn an meine neuen Flügel geklebt und das Skelett an meinem Kampfpyjama befestigt. Für die Schwelle zum Himmel muss man sich schließlich in Schale werfen. Bei dem Gedanken, aufs Dach zurückzukehren, schlägt mein Herz Purzelbäume zu Punkrockmusik.
»Wow! Ist das dein neues Wolkenkostüm?«, ruft Victor, der auf dem Flur herumlungert.
»Mein was?«
»Dein neues Wolkenkostüm. Um auf den Wolken spazieren zu gehen!«
»Ach so. Äh … ja. Heute Nacht probiere ich es auf dem Dach aus.«
»Darf ich mitkommen?«
»Tut mir leid, das geht nicht. Das ist zu gefährlich.«
Victors viel zu große Augen und die Wolken, die sich davorschieben, machen es mir nicht leicht.
»Lass mich erst nachsehen, ob es auf dem Dach spukt. Wenn nicht, nehme ich dich bald mal mit, okay?«
Er nickt langsam.
»Gespenster sind meine Freunde. Du kannst mich beim nächsten Mal also ruhig mitnehmen«, sagt er und lacht wie eine Trickfilmmaus.
»Versprochen.«
Als ich durch die Tür ins Treppenhaus trete, steht er im Flur und sieht mir nach.
ieder stehe ich an der Schwelle zum Himmel. Der Zauber des Orts ist ungebrochen. Nach dem Aufstieg pfeife ich genauso aus dem letzten Loch wie gestern, aber meine neuen Flügel machen mich unbesiegbar. Ich sehe mich gründlich um und präge mir jedes Detail ein: die handgenähten Stoffvögel, die in Rundkäfigen inmitten der schlafenden Kanarienvögel sitzen, der Flaum, der jeden Quadratzentimeter des Dachs überwuchert, die Nebelschwaden, die in Zeitlupe vorbeiziehen und Mondschein und Nacht verschmelzen lassen. Man könnte meinen, das Dach hätte sich vom Krankenhaus gelöst und würde hinaus ins Weltall
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