Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
schneller werden.
»Sie masturbieren Ihre Vögel!«
»Immer gleich so große Worte! Ich sorge nur dafür, dass ihr Körper die Endorphine, die das Gehirn ausschüttet, besser aufnehmen kann. Und beschere ihnen nebenbei eine kleine Extradosis.«
»Ich nehme das Angebot an.«
»Ich habe Ihnen doch noch gar nicht die Bedingungen –«
»Ich akzeptiere Ihre Bedingungen.«
»Das reicht mir nicht.«
»…«
»Schön, dass Sie sich mir so spontan hingeben, aber Sie wissen noch nicht genug, um eine Entscheidung von solcher Tragweite zu treffen. Es geht hier nicht um einen Gleitschirmkurs oder etwas Ähnliches. Wenn Sie leben wollen, müssen Sie Ihr menschliches Dasein hinter sich lassen und zum Tier werden. Sie müssen eine Metamorphose durchmachen und sich in einen Vogel verwandeln, mit Leib und Seele. Das hat weitreichende Folgen. Aber es würde Ihnen das Leben retten.«
»Das müssen Sie mir genauer erklären.«
»Die Metamorphose ist vererbbar, meine ganze Familie ist wie ich. Und wir können die Fähigkeit auch an andere weitergeben. Durch den Liebesakt. Das Phänomen geht auf meinen sehr großen Großvater zurück.«
»Ihren sehr großen Großvater?«
»Ein Arzt und Erfinder, wie es sie im 18. Jahrhundert gab, jemand, der zeit seines Lebens von Metamorphosen fasziniert war. Seiner Meinung nach ist die Verwandlung der einzige Weg, um wahrhaftig zu leben. Kennen Sie Ovid, den römischen Dichter? Das war sein Lieblingsschriftsteller. Mein sehr großer Großvater verwandte einen Großteil seiner Zeit darauf, Ovids Geschichten wahr werden zu lassen. Wenn man zu einem Mischwesen aus Mensch und Tier wird, erweitert man seine Wahrnehmung. Und als sich mein sehr großer Großvater in meine Großmutter verliebte, wurde sie die erste Vogelfrau der Familie.«
Endorphina steckt sich nervös eine weitere Zigarette an, stößt den Rauch aus wie ein Ausrufezeichen und fährt dann fort:
»Die Metamorphose ist recht unsanft. Sie erschüttert einen bis in die letzte Zelle. Der Adrenalinstoß ist so heftig, dass er einen Herzinfarkt auslösen kann, und bei Ihrem Zustand ist es fraglich, ob Sie ihn überleben würden. Der Erfolg der Verwandlung hängt auch davon ab, ob Sie bereit sind, einem anderen Ich Platz zu machen, Ihrem wahren Ich. Sie müssen sich selbst überwinden. Wenn Ihnen das gelingt und die Metamorphose erfolgreich ist, verschwindet der Krebs. Dann sind Sie gerettet.«
»Ich habe nichts zu verlieren.«
»Doch, Ihr Leben als Mensch. Sie werden es aufgeben müssen. Niemand reagiert gleich, bei jedem treten andere Nebenwirkungen auf. Wegen Ihrer Krankheit können Sie sich nicht nur zum Teil verwandeln. Ich bin ein Mischwesen, halb Frau, halb Vogel. Ich mache jeden Abend eine Verwandlung durch und werde am Morgen wieder zum Menschen. Wenn mein Frauenkörper altert, wird der Vogel in mir immer häufiger zum Vorschein kommen. Und wenn ich als Mensch sterbe, werde ich ganz und gar zum Vogel. Aber Ihre Krebserkrankung verhindert diesen natürlichen Ablauf. Nur eine vollständige Verwandlung kann Sie vor dem Tod retten.«
»Ich habe keine Angst.«
»Das habe ich befürchtet. Ich weiß, wozu Sie imstande sind. Aber auch, wozu Sie nicht imstande sind.«
Als sie das sagt, fühle ich mich wie der stärkste und schwächste Mensch zugleich.
»Außerdem werden Sie die Eigenschaften des Vogels übernehmen, in den Sie sich verwandeln.«
»Kann man sich denn aussuchen, was für ein Vogel man wird?«
»Das geschieht ganz unbewusst. Man wird zu dem, was man bereits ist.«
»Heißt das, ich werde vielleicht ein plumper Laufvogel, der gar nicht fliegen kann?«
»Das ist nicht auszuschließen. Wie dem auch sei, die Leute werden Sie seltsam finden. Sie werden von Ihnen fasziniert sein und Sie zugleich verachten.«
»Ergeht das nicht allen so, die ein bisschen anders sind?«
»Ja, aber in Ihrem Fall ist es noch schlimmer. Falls Sie sich für die Metamorphose entscheiden, dürfen Sie mit niemandem darüber reden. Ihretwegen und meinetwegen.«
»Ich kann ein Geheimnis bewahren.«
»Eins sollten Sie bedenken, bevor Sie den großen Schritt wagen. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Mein Onkel war halb Pferd, halb Mensch und hielt das Leben im Verborgenen irgendwann nicht mehr aus. Er war ein kräftiger Schecke mit grauen Augen, der allmählich erblindete. Eines Nachts beschloss er, einen Ausflug in die schicken Viertel von Paris zu machen. Er verirrte sich und galoppierte durch den strömenden Regen. Doch der Wolkenbruch
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