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Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathias Malzieu
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konnte ihn nicht aufhalten. Ich höre ihn noch schwärmen: ›Der Eiffelturm um Mitternacht, wie wunderbar, oh, welche Pracht!‹ Er wollte die Lichter ein letztes Mal aufflammen sehen, bevor sich die Dunkelheit für immer über seine grauen Augen legte. Aber leider kann man als Pferd nicht ungestraft durch die Straßen von Paris galoppieren. Die Leute verfolgten und bedrängten ihn in ihren Autos, hupten aus Spaß oder weil es sie ärgerte, dass er nicht auf rote Ampeln achtete, und wichen ihm erst im letzten Moment aus. Einer versuchte, auf seinen Rücken zu klettern, und mein Onkel warf ihn kurzerhand ab – er hasste es schon immer, wenn jemand ihm seinen Willen aufzwingen wollte. Die Leute wurden immer aggressiver. Um zehn Minuten nach Mitternacht gingen am Eiffelturm die Lichter aus. Der Platz vor dem Trocadero schimmerte wie ein zugefrorener See. Mein Onkel sah kaum noch etwas, und seine Hufe fanden auf dem spiegelglatten Asphalt keinen Halt. Er schlitterte gegen die Füße seines Lieblingsbauwerks. Am nächsten Morgen fand man seine von Tau überzogene Leiche. Mein Onkel sah aus, als würde er lächeln. Niemand wagte es, sich dem großen toten Körper zu nähern. Die Kinder hätten gern mit ihm gesprochen, die Männer ihn fotografiert und die Frauen ihn berührt. Ich erzähle Ihnen diese Geschichte, um Sie darauf hinzuweisen, dass man sich nach der Metamorphose nicht mehr unbefangen in der Öffentlichkeit bewegen kann. Man muss sich auf Ablehnung gefasst machen. Man trägt ein Geheimnis mit sich herum und muss sich verstecken. Man ist allein. Es ist kalt, und man ist allein.«
    »Ergeht es allen, die sich verwandeln, so?«
    »Nein, zum Glück nicht, manche Geschichten gehen auch gut aus. Zum Beispiel die von der Storchenfrau, die in einem verlassenen Haus mitten im Wald lebte. Sie wurde aus Versehen von einem Jäger angeschossen, als sie sich gerade verwandelt hatte. Als er ihr den Gnadenschuss geben wollte, gab sie sich als Mensch zu erkennen und flehte um ihr Leben. Daraufhin nahm er sie mit nach Hause und pflegte sie gesund. So verliebten sich die beiden ineinander.«
    »Und wie steht es heute um sie?«
    »Sie sind immer noch genauso verliebt, nur älter. Es sind meine Eltern.«
    »Jetzt haben Sie mir Ihr Geheimnis verraten. Ich dachte, man darf nicht darüber reden?«
    »Das ist ein Vertrauensbeweis. Wenn Sie wollen, dass ich Ihre Verwandlung in die Wege leite, müssen Sie mir auch vertrauen.«

as Knarren der Schaukel unterstreicht ihre Worte wie ein Trommelwirbel. Plötzlich wirkt Endorphina klein und verloren, wie ein Mädchen, das nicht mehr aufhören kann, nervös mit den Wimpern zu schlagen. Dann sieht sie mir direkt in die Augen.
    »Würdest du mit mir schlafen? Und ein Kind mit mir zeugen?«
    In der plötzlichen Stille buhlt der Wind um unsere Aufmerksamkeit. Er pfeift durch die Äste der großen Tanne neben dem Krankenhaus.
    »Die Metamorphose ist nur durch den Liebesakt übertragbar. Du musst damit einverstanden sein, möglicherweise Vater zu werden«, sagt sie mit so dünner Stimme, dass ihre Worte im Wind davonwehen. »Du würdest mich sehr glücklich machen. Wunschlos glücklich.«
    Die Überraschung lähmt mich. Kurzschluss zwischen Herz und Hirn. Ein Glasbläser versucht, meinen Gedanken eine Form zu geben, ich kann seine Flamme spüren.
    Ich habe behauptet, ich hätte keine Angst, aber das war gelogen.
    »Ich habe dich gewarnt. Ein Pakt mit dem Teufel ist gar nichts im Vergleich zu der Vereinbarung, die ich dir vorschlage: dein Leben im Tausch gegen ein neues.«

ch fühle mich wie eine Glocke nach den zwölf Schlägen um Mitternacht.
    »Bisher hatten alle Angst vor einer Vogelfrau, die sich ein Kind wünscht.«
    Sie streichelt ihren Federnbauch wie eine Wahrsagerin ihre Glaskugel. Dann zündet sie sich eine Zigarette an und schafft es so, einigermaßen Haltung zu bewahren. Schweigen. Eine ganze Schar Engel zieht im Rauch ihrer Camel light vorbei.
    Ihre kühle Stimme durchbricht die Stille.
    »Also, was sagst du? Denk in Ruhe über mein Angebot nach. Aber warte nicht zu lange.«
    Ich stehe auf, und als ihr Atem mich streift, bekomme ich weiche Knie. Mir wird schwindelig. Ich gehe auf sie zu, bis ich den morgenfrischen Duft ihres Dekolletés rieche. Federn durchdringen mich in Zeitlupe. Ihr Körper biegt sich über meinen, ich kuschle mich in ein Nest. Unsere Schatten gehen im Mondschein zusammen und wieder auseinander. Mit verführerischem Vorsatz öffnet sie die Lippen. Meine Zunge

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