Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
existiert nur noch in der Erinnerung, es galoppiert über eine neblige Ebene davon. Ich konzentriere mich auf den verrückten Gedanken, Vater zu werden. Er blitzt auf, explodiert wie ein Feuerwerkskörper und ist genauso schnell wieder fort. Vater. Wer will schon einen plastikverpackten Truthahn als Vater? Sollte ich den gierigen Krallen der Roten Bete entkommen, wäre ich kein richtiger Mensch mehr, sondern ein Vogel, der sich in einer Zellophanwüste verirrt hat. Und falls das Kind nach meinem Tod zur Welt kommt, müsste Endorphina ihm künstliche Erinnerungen an mich einpflanzen. Im Grunde müsste sie welche erfinden, schließlich hat sie selbst fast keine. Und selbst wenn ich die Geburt meines Kindes miterlebe, was dann? Was könnte ich ihm schon groß beibringen? Wie man am besten fällt? Am originellsten scheitert? Am spektakulärsten versagt?
Wie man zum Tier wird? Zum Gespenst?
nter dem plastikverschweißten Fernseher leuchtet die Digitalanzeige, es ist 21.30 Uhr. Jenseits meiner Zelle taucht der Sonnenuntergang die Welt in goldgelbes Licht. Ich habe fast den ganzen Tag verschlafen. Neben meinem Nachttisch steht ein Karton, der mir bekannt vorkommt. Wahrscheinlich meine Belohnung dafür, dass ich Madame Sérault alias Janis Joplin das Schienbein zertrümmert habe. Neugierig öffne ich den Karton. Wieder ist er randvoll mit roten Federn gefüllt. Ich tauche die Hand hinein und ziehe einen Fotoapparat heraus, einer von der Sorte, die man nur mit großer Ehrfurcht in die Hand nimmt. Ein japanisches Tamagotchi im Retrostil. Ich öffne den beiliegenden roten Briefumschlag.
Lieber Tom,
Du fühlst dich bestimmt verraten. Ich sage dir, du sollst singen, und man sperrt dich in einen Plastikkäfig. Aber nach dem Vorfall gestern haben meine Kollegen darauf gedrängt, dich in ein anderes Krankenhaus zu verlegen. Ich musste dich isolieren, um dich überhaupt hierbehalten zu können. Immerhin hat das Ganze auch einen Vorteil: Auf der Isolierstation bis du vor Keimen geschützt. Das ist gut, denn eine Ansteckung könnte dich weiter schwächen, sodass du die Metamorphose vielleicht nicht überleben würdest.
Bitte nimm es mir nicht übel, dass ich dir meine doppelte Identität verschwiegen habe. Es schien mir nötig, damit du mich als Ärztin weiterhin ernst nimmst. Du hast alles durcheinandergebracht, als du deine Pyjamahose in meinem Nest vergessen hast. Aber keine Sorge, weder deine Ärztin noch deine Geliebte werden dich im Stich lassen.
Ich habe hart dafür gearbeitet, Onkologin zu werden. Als Kind habe ich eine Tante an den Krebs verloren. Seitdem bekämpfe ich die Krankheit. Dazu ist mir jedes Mittel recht, aber mein sehr großer Großvater nahm mir das Versprechen ab, die Metamorphose niemals an einen Patienten weiterzugeben, um ihm das Leben zu retten – außer aus wahrer Liebe. »Du musst vorsichtig sein«, bläute er mir ein. »Wenn du einem Mann, der dich nicht wirklich liebt oder den du nicht wirklich liebst, dieses Geschenk machst, wird er sich gegen dich wenden, gegen uns alle. Wenn du eine falsche Entscheidung triffst, erschaffst du ein Monster.«
Ich kenne dich schon viel länger, als du glaubst. Vor einigen Monaten war ich bei einer deiner Vorführungen, in einem Dorf ganz hier in der Nähe. Du bist an der Fassade einer Bäckerei hochgeklettert, um vom Dach zu »fliegen«. Das hat meine Neugier geweckt! Zuerst ging alles gut, aber dann öffnete ein Hausbewohner seine Fensterläden. Die Leute dachten, der Sturz würde zur Show gehören, und applaudierten. Niemand bemerkte, dass du ohnmächtig geworden warst. Ich leistete Erste Hilfe, verschwand aber, als die Sanitäter eintrafen. In derselben Nacht setzte ich die Kanarienvögel in deinen rollenden Sarg.
Wenig später wurdest du ins Krankenhaus eingeliefert und kamst auf meine Station. Auch ohne dein Kostüm erkannte ich dich sofort. Ich beobachtete dich so oft wie möglich. Ich habe gesehen, wie du nachts die Federn aus den Kopfkissen gestohlen hast und mit deinen selbst gebastelten Flügeln durch die Flure geschlichen bist. Ich verstand nur zu gut, dass du fliehen und jemand anders sein wolltest! Mein Wunsch, dir zu helfen, wurde immer stärker. Jede Nacht, nachdem du auf dein Zimmer zurückgekehrt warst, füllte ich die geplünderten Kopfkissenbezüge auf, damit du deine Beutezüge fortsetzen konntest. Eines Tages legte ich dir zwei mit roten Federn gefüllte Kopfkissen hin, und etwas später ließ ich dir das Flügelgestell bringen. Dann warf ich
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