Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Sie hat den Beginn meiner Verwandlung bemerkt. Als sie verkündet, mein Zustand habe sich deutlich gebessert, spricht nicht die Ärztin aus ihr, sondern Endorphina. Pauline macht ein überraschtes Gesicht und schielt auf das Krankenblatt. Die als Ärztin verkleidete Vogelfrau zieht ihre Fingernägel über den Flaum auf meinem Unterarm.
»Die … Behandlung ist sehr erfolgreich, Herr Cloudman. Vielleicht werden Sie ein paar Nebenwirkungen spüren, aber die Alchemie, äh, die Chemotherapie hat angeschlagen.«
Im Hinausgehen fügt sie hinzu:
»Ich freue mich sehr, dass es Ihnen besser geht.«
Pauline sieht ihr nach, als wäre sie eine Außerirdische.
Den ganzen Tag zieht mich die Kamera auf dem Nachttisch magisch an. Ich bin gespannt, was auf den Fotos zu sehen sein wird. Starr wie ein Raubvogel fixiere ich die Tür und warte darauf, dass meine Ärztin sich blicken lässt. Sobald sie sich hinter dem runden Fester in meiner Zimmertür zeigt, fotografiere ich sie. Durch das Bullauge sehe ich nur ihren Kopf und ihre Brust. Am liebsten würde ich an ihr herumpicken und mich dann in ihre Arme schmiegen. Zwei- bis dreimal am Tag schaut sie durch mein Fenster, je nachdem, um wie viele andere Kranke sie sich kümmern muss. Es sieht aus, als trüge sie Rollschuhe. Wie schön wäre es doch, wenn sich im Krankenhaus alle auf Rollschuhen fortbewegen würden! Die Flure wären unsere Rollschuhbahn, und es gäbe wunderschöne Karambolagen. Am Abend würden wir ein Tanzturnier für Rollatoren veranstalten. Die Krankenschwestern würden ein Rollschuhballett aufführen, und alle Patienten wären trunken vor Glück. Ich würde Rollen unter das Krankenhausgebäude schrauben und ein Segel hissen, damit es beim ersten Windstoß davonrollt. Wir würden es lenken wie ein riesiges Skateboard: Wir müssten uns nur alle im Südflügel zusammendrängen, und schon würde das Schiff in See stechen. Die Bäume würden sich zur Seite neigen, um uns durchzulassen. Kurs auf den Ozean! Statt immer nur im Park spazieren zu gehen, würden wir auf dem Strand tanzen.
Die Rote Bete schlägt mir wieder ihre Krallen in den Bauch. Der Schmerz überkommt mich häufig dann, wenn meine Gedanken auf Wanderschaft gehen. Er zerrt mich in die Wirklichkeit zurück und sperrt mich in ihr ein. Als Gegenmittel bleibt mir nur die Hoffnung. Der Kükenflaum auf meiner Haut scheint zu verheißen, dass eine Verwandlung möglich ist. Pauline bemüht sich krampfhaft, mich nicht anzustarren und so zu tun, als wäre alles wie immer.
Die Sonne ist untergegangen, jenseits der Mauern ballt sich die Nacht zusammen. Neue Kraft durchströmt mich. Ich spüre, wie der Vogel von mir Besitz ergreift. Er verkabelt mein Großhirn mit dem Herzen. Ich verliere die Kontrolle, gebe sie fast freiwillig ab. Ein überwältigendes Gefühl! Ich will loslaufen, bis ich abhebe. Ohne es zu bemerken, beginne ich zu pfeifen. Paulines breiter Po kommt mir plötzlich verlockend wie ein Brownie vor. Dabei mag ich Brownies nicht besonders. Ich hämmere auf den Knopf, der mich mit den Krankenschwestern verbindet. Pauline taucht auf und fragt mich übertrieben freundlich nach meinem Anliegen. Ich pfeife mittlerweile wie ein Kessel, die Töne werden immer höher. Pauline hält sich die Ohren zu, ich springe ihr auf den Arm. Sie wehrt sich, ich stoße den Tropfständer um. Sie schreit, ich trällere aus voller Kehle, übertöne ihr Kreischen, werfe sie aufs Bett und drücke ihr einen Kuss auf den Mund. Anscheinend komme ich wieder zu Kräften, denn Pauline wiegt gut und gern doppelt so viel wie ich. Ihre großen Brüste wärmen meinen Oberkörper wie eine Elektroheizung. In ihrem Blick liegt verblüffte Empörung. Ich hüpfe aus meiner Zelle, laufe los, hebe ab, falle der Länge nach hin, entpuppe mich als unfertiger Vogel.
Mit dem Dreamoskop um den Hals platze ich in den Aufenthaltsraum der Krankenschwestern und schlage mit den Flügeln. Allgemeines Zusammenzucken. Um sie von meiner Harmlosigkeit zu überzeugen, stimme ich Blue Moon von Elvis an. Eine Krankenschwester kennt das Lied und summt mit. Die anderen gucken verschreckt. Nachdem ich sie fotografiert habe, schwirre ich von einer zur anderen und verteile Küsse. An Alte aus Pappmaché, kleine Dicke mit großen Brillen, Halbhübsche mit Haarknoten, ich kann gar nicht mehr aufhören. Manche kreischen, andere lachen, eine ruft den Sicherheitsdienst. Eine Horde Rugbyspieler im blauen Kittel bricht durch die Tür. Ich springe auf den Schreibtisch, rutsche
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