Metro 2034
empfinden, noch konnte man irgendwelche Absichten erkennen, diesen Übergriff zu rächen oder abzuwehren. Sobald die Gruppe die Station verlassen hätte, würden sie ihre getöteten Artgenossen ohne zu zögern verspeisen. Aggression ist eine Eigenschaft von Jägern, dachte Homer. Wer sich von Aas ernährt, benötigt sie nicht, denn er muss nicht töten. Alles Lebende stirbt ohnehin irgendwann und wird so von selbst zu ihrer Nahrung. Sie müssen nur abwarten.
Im Schein der Lampe waren durch die schmutziggrünlichen Fensterscheiben ihre widerlichen Fratzen zu erkennen, ihre schief gebauten Körper und krallenbewehrten Hände, die dieses satanische Aquarium von innen betasteten. In absolutem Schweigen beobachteten Hunderte Paar trüber Augen unablässig den kleinen Trupp, und die Köpfe der Kreaturen drehten sich synchron, während sie die Vorbeiziehenden aufmerksam verfolgten. Vermutlich hätten die kleinen Missgeburten in ihren Formalingläsern die Besucher der Petersburger Kunstkammer genau so angeblickt, hätte man ihnen nicht vorsorglich die Lider zusammengenäht.
Obwohl für Homer die Stunde der Sühne für seine Gottlosigkeit immer näher rückte, konnte er sich doch nicht überwinden, an einen Gott oder den Teufel zu glauben.
Wenn jedoch das Fegefeuer tatsächlich existierte, so hätte es für den Alten genau so ausgesehen. Sisyphus war verdammt dazu, gegen die Schwerkraft zu kämpfen, Tantalus verurteilt zur Folter durch unstillbaren Durst. Auf Homer jedoch wartete an der Station seines Todes eine zerknitterte Zugführeruniform sowie dieser ungeheuerliche, gespenstische Zug mit seinen ekligen Passagieren, die an mittelalterliche Wasserspeier erinnerten und der Spott und Hohn aller Rachegötter waren. Und sobald der Zug vom Bahnsteig losfuhr, würde sich der Tunnel, wie in einer der alten Metro-Legenden, zu einem Möbiusband krümmen, einem Drachen, der seinen eigenen Schwanz verschlingt.
Hunters Interesse an dieser Station und ihren Bewohnern war erloschen. Den Rest des Saals ließ die Gruppe schnellen Schritts hinter sich. Achmed und Homer mussten sich sputen, um dem plötzlich loseilenden Brigadier zu folgen.
Der Alte verspürte den Wunsch sich umzudrehen, loszuschreien und zu schießen, um diese dreisten Ausgeburten zu erschrecken und all seine schweren Gedanken zu verscheuchen. Doch stattdessen trippelte er mit gesenktem Kopf weiter und versuchte nicht auf irgendwelche verwesenden Leichenreste zu treten. Achmed tat es ihm gleich.
Während sie den Nachimowski prospekt fluchtartig verließen, dachte keiner von ihnen mehr daran sich umzusehen.
Der Lichtfleck von Hunters Lampe flog von einer Seite zur anderen, als folge er einem unsichtbaren Akrobaten durch diese unheilvolle Zirkuskuppel, doch auch der Brigadier achtete nicht mehr darauf, was sein Lichtkegel erfasste.
In dem Schein flackerten für Sekundenbruchteile frische Knochen und ein halb abgenagter, eindeutig menschlicher Schädel auf und verschwanden gleich wieder in der Finsternis. Daneben lagen wie sinnlose Schalen der Stahlhelm eines Soldaten sowie eine Panzerweste.
Auf dem Helm konnte man einen Aufdruck in weißer Farbe lesen: SEWASTOPOLSKAJA.
4 - VERFLECHTUNGEN
Papa... Papa!Ich bin es, Sascha!« Sie löste vorsichtig den Riemen von dem angeschwollenen Kinn ihres Vaters und nahm ihm den Helm ab. Dann griff sie in seine verschwitzten Haare, hob den Gummi an, zog die Gasmaske ab und warf sie fort wie einen verschrumpelten, tödlich-grauen Skalp.
Seine Brust hob sich schwer, die Finger kratzten über den Granit, und seine wässrigen Augen starrten sie an, ohne zu blinzeln. Er antwortete nicht.
Sascha legte ihm den Rucksack unter den Kopf und stürzte zum Tor. Mit ihrer schmalen Schulter stemmte sie sich gegen den enormen Türflügel, holte tief Luft und knirschte mit den Zähnen. Der tonnenschwere Fels aus Eisen gab widerstrebend nach, fuhr herum und fiel ächzend ins Schloss. Sascha schob knallend den Riegel vor und sank zu Boden. Eine Minute, nur eine Minute, um Atem zu holen .
gleich würde sie zu ihm zurückkehren. Jeder neue Streifzug kostete ihren Vater immer mehr Kraft - angesichts der mageren Ausbeute eigentlich eine reine Verschwendung. Diese Expeditionen verkürzten sein Leben nicht um Tage, sondern um Wochen, ja Monate. Doch es war die Not, die ihn dazu zwang: Wenn sie nichts mehr zu verkaufen hatten, blieb ihnen nur noch, Saschas zahme Ratte die einzige an dieser lebensfeindlichen Station - zu verspeisen und sich dann zu
Weitere Kostenlose Bücher