Metro 2034
erschießen.
Wenn er es zugelassen hätte, hätte Sascha ihrem Vater längst die Arbeit abgenommen. Wie oft hatte sie um seine Atemschutzmaske gebeten, damit sie selbst nach oben gehen konnte, doch er blieb unerbittlich. Vermutlich wusste er, dass dieses löchrige Stück Gummi mit den längst verstopften Filtern nicht viel mehr taugte als ein Talisman, aber das hätte er ihr gegenüber niemals zugegeben. Er log, er wisse, wie man die Filter reinigen könne, selbst nach einem mehrstündigen Streifzug tat er so, als fühle er sich bestens, und wenn er nicht wollte, dass sie ihn Blut erbrechen sah, schickte er sie weg, angeblich um einfach nur allein zu sein.
Es stand nicht in Saschas Macht, etwas zu verändern.
Man hatte sie und ihren Vater in diesen verlassenen Winkel gedrängt, man hatte sie am Leben gelassen - nicht aus Mitleid, sondern eher aus sadistischer Neugier. Man hatte wohl geglaubt, sie würden ohnehin nicht länger als eine Woche überleben, doch der Wille und die Ausdauer ihres Vaters hatten dafür gesorgt, dass sie nun schon jahrelang durchhielten. Man hasste sie, verachtete sie, lieferte ihnen aber regelmäßig Nahrung - natürlich nicht umsonst.
In den Pausen zwischen seinen Streifzügen, jenen seltenen Minuten, in denen sie zu zweit an ihrem spärlich qualmenden Feuerchen saßen, erzählte ihr Vater gerne von früheren Zeiten. Schon vor Jahren hatte er begriffen, dass er sich nichts vorzumachen brauchte aber wenn er schon keine Zukunft mehr hatte, so konnte ihm seine Vergangenheit doch niemand nehmen.
Früher hatten meine Augen die gleiche Farbe wie deine, sagte er zu ihr. Die Farbe des Himmels . Und Sascha glaubte sich an diese Tage zu erinnern - jene Tage, als sich sein Tumor noch nicht zu einem riesigen Kropf aufgebläht hatte und seine Augen noch nicht verblasst, sondern genauso strahlend waren wie ihre jetzt.
Wenn ihr Vater »Farbe des Himmels« sagte, so meinte er natürlich jenes Azurblau, das noch in seiner Erinnerung lebte, nicht die glutroten Staubwolken, unter denen er sich befand, wenn er an die Oberfläche stieg. Das Tageslicht hatte er seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und Sascha kannte es überhaupt nicht. Nur in ihren Träumen hatte sie es zu Gesicht bekommen, aber konnte sie mit Gewissheit sagen, dass ihre Vorstellung der Wirklichkeit entsprach?
Wie ergeht es Menschen, die von Geburt an blind sind: Träumen sie eine Welt, die der unseren ähnlich ist? Sehen sie überhaupt etwas im Traum?
Wenn kleine Kinder ihre Augen schließen, glauben sie, dass die ganze Welt in Dunkelheit getaucht ist; sie glauben, dass alle um sie herum in diesem Augenblick so blind sind wie sie. In den Tunneln ist der Mensch hilflos und naiv wie diese Kinder, dachte Homer. Er bildet sich ein, dass er Licht und Finsternis beherrscht, wenn er nur seine Taschenlampe an- und wieder ausknipst. Dabei kann selbst das undurchdringlichste Dunkel voller sehender Augen sein. Seit der Begegnung mit den Leichenfressern ließ ihn dieser Gedanke nicht mehr los. Ablenken. Er musste sich ablenken. aufgetaucht war, konnte sich keiner der Wächter erklären, wie ein Mann von einer so beeindruckenden Statur unbemerkt sämtliche nördlichen Posten hatte passieren können. Nur gut, dass der Kommandeur von den Diensthabenden keine Erklärung verlangt hatte.
Doch wenn nicht über den Nachimowski prospekt, wie war Hunter dann zur Sewastopolskaja gelangt? Die anderen Wege zur Großen Metro waren längst abgeschnitten. Die verlassene Kachowskaja-Linie, in deren Tunneln aus bekannten Gründen schon seit Jahren kein lebendes Wesen mehr gesichtet worden war? Unmöglich. Die Tschertanowskaja? Lächerlich. Nicht einmal ein so geschickter und gnadenloser Kämpfer wie Hunter konnte sich allein durch diese verfluchte Station schlagen. Außerdem war es unmöglich dorthin zu gelangen, ohne vorher an der Sewastopolskaja aufzutauchen.
Somit waren Norden, Süden und Osten ausgeschlossen.
Nun blieb Homer nur noch eine Hypothese: Der geheimnisvolle Besucher war von oben gekommen. Natürlich waren alle bekannten Ein- und Ausgänge der Station sorgfältig verbarrikadiert und wurden ständig bewacht, doch er konnte einen der Lüftungsschächte geöffnet haben. Die Sewastopoler rechneten nicht damit, dass dort oben, in den ausgebrannten Plattenbau-Ruinen, noch jemand über genügend Intelligenz verfügte, um ihr Warnsystem außer Betrieb zu setzen. Das endlose Schachbrett aus mehrstöckigen Wohnkomplexen, durchpflügt von den Splittern
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