Metro 2034
und entsicherte.
»Wer ist das dort?«, murmelte Hunter plötzlich zu Homer gewandt.
Homer grinste innerlich: Wer wusste schon, was ihnen der Teufel dort bescherte? Durch die weit offenen Tore des Nachimowski prospekt fielen von oben wie durch einen Trichter die unvorstellbarsten Kreaturen herein. Doch es gab an dieser Station auch ständige Bewohner. Obwohl sie als ungefährlich galten, empfand Homer ihnen gegenüber ein besonderes Gefühl: ein klebriges Gemisch aus Angst und Ekel.
»Klein . haarlos«, versuchte der Brigadier sie zu beschreiben. Das genügte Homer: Das waren sie. »Leichenfresser«, sagte er leise.
Zwischen der Sewastopolskaja und der Tulskaja, vielleicht auch in anderen Regionen der Metro, hatte dieses abgeschmackte Schimpfwort in den letzten Jahren eine neue Bedeutung erhalten, nämlich die wörtliche.
»Sie ernähren sich von Fleisch?«, fragte Hunter. »Eher von Aas.«, erwiderte der Alte unsicher.
Diese widerlichen Geschöpfe - wie spinnengleiche Primaten - griffen Menschen nicht an, sondern ernährten sich von totem Fleisch, das sie von der Oberfläche herunterschleppten. Und am Nachimowski prospekt hatte sich ein großes Rudel von ihnen eingenistet, weshalb die umliegenden Tunnel von dem ekelerregendsüßen Verwesungsgestank durchtränkt waren - an der Station selbst war er so schwer, dass sich einem der Kopf zu drehen begann. Manche setzten sich schon weit vorher ihre Gasmaske auf, um es wenigstens einigermaßen auszuhalten. Homer, der diese Besonderheit des Nachimowski in bester Erinnerung hatte, holte hastig seine Atemschutzmaske aus der Tasche und zog sie sich über Mund und Nase.
Achmed, der zum Packen kaum Zeit gehabt hatte, blickte ihn neidisch an und vergrub seine Nase in der Ellenbeuge. Die Miasmen, die sich von der Station aus verbreiteten, umhüllten sie, trieben sie an, jagten sie weiter. Hunter jedoch schien nichts zu empfinden. »Ist es etwas Giftiges? Sporen?«, fragte er Homer. »Gestank«, blökte dieser hinter seiner Maske hervor. Der Brigadier blickte den Alten prüfend an, als wolle er sichergehen, dass dieser sich keinen Spaß erlaubte. Dann zuckte er mit seinen breiten Schultern.
»Das Übliche also.« Er packte sein kurzes Sturmgewehr bequemer, bedeutete ihnen, ihm zu folgen, und ging mit weichen Schritten voraus.
Nach vielleicht fünfzig Metern kam zu dem ungeheuerlichen Gestank noch ein kaum wahrnehmbares, unverständliches Flüstern hinzu. Homer wischte sich schwere Schweißtropfen von der Stirn und versuchte sein galoppierendes Herz zu zügeln. Sie waren ganz nah.
Schließlich ertastete der Schein der Lampe etwas, wischte die Finsternis von zerschlagenen Scheinwerfern, die blind ins Nichts starrten, von einer staubigen, von netzartigen Rissen durchzogenen Frontscheibe, von einer blauen Außenhaut, die sich störrisch dem Rostfraß zu widersetzen schien . Vor ihnen stand der vorderste Waggon eines Zuges, der wie ein riesiger Korken den Hals des Tunnels verstopfte. Der Zug lag schon seit langem hoffnungslos tot da, doch jedes Mal, wenn er ihn erblickte, verspürte Homer den kindlichen Wunsch, in die verwüstete Fahrerkabine zu steigen, über die Tasten des Armaturenbretts zu streichen und sich mit geschlossenen Augen vorzustellen, dass er in voller Fahrt durch den Tunnel raste, hinter sich eine Girlande hell erleuchteter Waggons, voll von Menschen, die lasen, dösten, auf die Werbeplakate starrten oder sich beim Heulen der Motoren zu unterhalten versuchten.
»Wird das Alarmsignal ‚Atom‘ gegeben, so ist die nächstgelegene Station aufzusuchen. Dort ist Stellung zu beziehen. Die Türen sind zu öffnen. Den Zivilschutzkräften ist Unterstützung bei der Evakuierung von Verletzten sowie bei der Hermetisierung der Metrostationen zu leisten.«
Für den Jüngsten Tag hatten die Zugführer exakte und einfache Anweisungen erhalten. Überall, wo dies möglich war, wurden sie ausgeführt. Die meisten Züge waren an den Bahnsteigen liegen geblieben und dort in einen lethargischen Schlaf gefallen, und nach und nach hatten die Überlebenden in der Metro, die anstelle einiger Wochen -wie man ihnen versprochen hatte -nun für immer in diesem Unterschlupf ausharren mussten, die Züge komplett demontiert, um sich mit Inventar auszustatten und ihre Ersatzteilbestände aufzustocken. An manchen Orten hatte man sie dagegen erhalten und nutzte sie als Wohnstätte, doch Homer, für den die Züge stets belebte Wesen gewesen waren, empfand dies als Leichenschändung - als
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