Metro 2034
diesen Funken gnadenlos ausgetreten. Homer hatte mit dem Brigadier ein sorgfältig vorbereitetes Gespräch begonnen, eine Art Berufung gegen sein Todesurteil.
Doch jener hatte ihn nicht begnadigen wollen -und hätte es auch gar nicht gekonnt. Homer allein war schuld an seinem unausweichlichen Schicksal.
Nur noch ein paar Wochen, vielleicht sogar noch weniger. Nur noch zehn Seiten in seinem Büchlein mit dem Plastikumschlag.
Dabei gab es doch noch so viel zu sagen. Für Homer war dies nicht nur ein Wunsch, sondern eine Pflicht, zumal ihre unfreiwillige Rast allmählich dem Ende entgegenzugehen schien. Er strich das Papier glatt, um seine Erzählung an dem Punkt wiederaufzunehmen, wo ihn zuletzt der Arzt unterbrochen hatte. Doch wieder schrieb seine Hand: »Was bleibt von mir?«
Und was blieb von all den unglücklichen Gefangenen an der Tulskaja? Vielleicht hatten sie bereits jegliche Hoffnung verloren, vielleicht warteten sie aber noch auf Hilfe - in jedem Fall stand ihnen ein grausames Ende bevor. Die Erinnerung? Es gab so wenige Menschen, an die sich überhaupt jemand erinnerte.
Zumal Erinnerungen kein besonders standhaftes Mausoleum waren. Wenn Homer in nicht allzu ferner Zukunft das Zeitliche segnete, würden mit ihm all jene vergehen, die er einst gekannt hatte. Und auch sein ganz persönliches Moskau würde sich in nichts auflösen.
Wo befand er sich? An der Pawelezkaja? Der Gartenring war jetzt kahl und leblos; in jenen letzten Stunden hatte man ihn noch mit schwerem militärischem Gerät freigeräumt, damit die Rettungsdienste und Polizei-Eskorten freie Bahn hatten. In den Seitenstraßen starrten die zerstörten Stadtvillen in die Gegend wie faule, halb ausgefallene Zähne... Homer konnte sich die Landschaft über ihnen leicht vorstellen, auch wenn er von hier aus noch nie an die Oberfläche gestiegen war.
Vor dem Krieg war er oft dort oben gewesen. Hatte sich mit seiner Verlobten zum Rendezvous in einem Café neben der Metro verabredet und war mit ihr anschließend in die Abendvorstellung im Kino gegangen. Er erinnerte sich, dass er sich hier in der Nähe einer kostenpflichtigen und fahrlässig schlampigen medizinischen Untersuchung zur Führerscheinprüfung unterzogen hatte. Außerdem war er von diesem Bahnhof aus oft mit seinen Kollegen zum Grillen in die Wälder gefahren...
Auf dem karierten Papier seines Notizbuchs erschien ihm plötzlich der Bahnhofsvorplatz im Herbstnebel sowie zwei im Dunst versinkende Türme: ein prätentiöses neues Bürogebäude am Ring, in dem einer seiner Freunde gearbeitet hatte, und die gewundene Turmspitze eines teuren Hotels, angebaut an einen ebenso teuren Konzertsaal. Einmal hatte er sich nach den Preisen für die Eintrittskarten erkundigt: Sie kosteten etwas mehr, als Nikolai damals in zwei Wochen verdiente.
Er sah und hörte sogar die klingelnden, eckigen, weißblauen Straßenbahnen, überfüllt mit unzufriedenen Fahrgästen, deren Ärger in diesem harmlosen Gedränge geradezu rührend anmutete; den Gartenring, festlich erleuchtet von Tausenden von Scheinwerfern und Blinkern wie eine einzige riesige Girlande; zaghafte, irgendwie unpassende Schneeflocken, die wegtauten, bevor sie den schwarzen Asphalt überhaupt berührten; und die Menschenmenge: Myriaden elektrisierter Partikel, aufgeladen, zusammensto
ßend, gleichsam chaotisch hin und her rasend - doch jedes in Wirklichkeit auf einer ganz bestimmten, wohldurchdachten Bahn.
Er sah die Schneise zwischen den Stalinschen Monolithen, durch die sich träge der große Fluss des Gartenrings auf den Platz ergoss. Aberhunderte von Fenstern leuchteten wie winzige Aquarien zu beiden Seiten der breiten Straße auf. Dazu das Neonfeuer der Schilder sowie die gigantischen Reklametafeln, die eine große Wunde verdeckten, in die demnächst eine neue mehrstöckige Prothese eingesetzt werden sollte, die jedoch niemand mehr fertig stellen würde.
Das alles sah er und begriff, dass er dieses herrliche Bild mit Worten ohnehin nicht beschreiben konnte. Blieben also am Ende wirklich nur die bemoosten, umgestürzten Gräber des Business-Zentrums und des schicken Hotels übrig? Sie ließ sich nicht blicken, weder nach einer noch nach drei Stunden. Beunruhigt suchte Homer sie auf der gesamten Station, fragte die Händler und Musikanten aus, fragte die Wachposten am Übergang zur Hanse. Der Alte wusste nicht aus noch ein. Wieder drückte er sich gegen die Tür des Zimmers, in dem der Brigadier lag. Dieser war eigentlich der Letzte, mit
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