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Metro 2034

Metro 2034

Titel: Metro 2034 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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ihr unglaublich, dass diese gigantischen Gebäude von Menschen ihrer Größe errichtet worden waren. Wozu hatte man die gebraucht? Waren die Menschen davor etwa schon degeneriert und geschrumpft, hatte die Natur sie auf das harte Leben in der Enge der Tunnel und Stationen vorbereitet? Diese Gebäude dagegen mussten von den stolzen Vorfahren der heutigen, kleinwüchsigen Menschen errichtet worden sein -kraftvollen, großen, imposanten Geschöpfen, gleich den Häusern, in denen sie gelebt hatten.
    Nun traten die Gebäude auseinander, und die Erde war bedeckt von einer steinartigen, grauen, an einigen Stellen aufgeplatzten Kruste. Mit einem Mal war die Welt noch riesiger geworden: Von hier aus öffnete sich der Blick in eine Ferne, dass Saschas Herz stockte und ihr Kopf sich zu drehen begann.
    Sie hockte sich gegen die von Schimmel und Moos überzogene Wand eines Palasts, dessen stumpfer Uhrturm die Wolken zu stützen schien, und versuchte sich vorzustellen, wie diese Stadt ausgesehen hatte, als sie noch lebte . Über die Straße -und dies war ohne Zweifel eine Straße schritten hochgewachsene, schöne Menschen in farbenprächtigen Kleidern, neben denen die bunteste Tracht der Pawelezkaja ärmlich und lächerlich erschien. Durch die schillernde Menge jagten Automobile, die den Waggons der Metrozüge glichen, doch waren sie so klein, dass nur vier Fahrgäste hineinpassten. Die Häuser sahen weniger düster aus. In den Fensteröffnungen gähnten keine schwarzen Löcher, sondern glänzte blitzsauberes Glas. Sascha sah vor sich kleine, leichte Brücken, die hie und dort zwischen den Häusern auf unterschiedlichster Höhe angebracht waren.
    Auch der Himmel war nicht so leer: Flugzeuge von unbeschreiblicher Größe schwammen darin und berührten mit ihren Bäuchen fast die Dächer. Ihr Vater hatte ihr einmal erklärt, dass sie beim Fliegen nicht mit den Flügeln flatterten, doch vor Saschas innerem Auge sahen sie aus wie träge Riesenlibellen, deren Flügel nahezu unsichtbar flirrten und nur schwach die grünen Sonnenstrahlen reflektierten.
    Und es regnete.
    Eigentlich war es ja nur Wasser, das vom Himmel fiel, doch das Gefühl war absolut überwältigend. Dieses Himmelswasser wusch nicht nur den Schmutz und die Müdigkeit ab -das hatten auch die heißen Strahlen aus der Gießkannendusche getan. Nein, dieses Wasser reinigte sie von innen, gewährte ihr Vergebung für all ihre Fehler. Es war eine magische Waschung, die alle Bitterkeit aus ihrem Herzen verbannte, sie erneuerte und verjüngte und ihr sowohl den Wunsch zu leben als auch die Kraft dazu verlieh. Gerade so, wie es der Alte gesagt hatte .
    Sascha glaubte so sehr an diese Welt, wünschte sie sich so sehr herbei, dass sie sie schließlich zu sehen begann. Schon hörte sie das leichte Sirren der durchsichtigen Flügel in der Höhe, das fröhliche Zwitschern der Menge, das gleichmä ßige Schlagen der metallischen Räder und das Rauschen des warmen Regens. Und plötzlich fiel ihr auch jene Melodie wieder ein, die sie am Vortag gehört hatte und die sich nun in dieses Konzert hineinmischte.
    Ein schmerzhaftes Stechen durchfuhr ihre Brust. Sie sprang auf und lief mitten auf die Straße hinaus, dem Menschenstrom entgegen, umkurvte die winzigen Waggons, die in dem Gedränge steckten, und hielt ihr Gesicht den schweren Tropfen entgegen. Der Alte hatte recht gehabt: Hier war es herrlich, geradezu märchenhaft schön. Man musste nur die Patina und den Schimmel der Zeit wegscheuern, schon begann die Vergangenheit zu glänzen -wie die bunten Mosaike und Bronzereliefs an verlassenen Stationen.
    Am Ufer eines grünen Flusses blieb sie stehen. Die Brücke, die einst darüber geführt hatte, war gleich vorne am Brückenkopf eingestürzt; das andere Ufer war außer Reichweite. Die Magie verschwand.
    Das Bild, das noch vor ein paar Augenblicken so echt, so farbig erschienen war, verblasste und erlosch. Die vertrockneten, leeren Häuser, die aufgesprungene Haut der Straßen, das zwei Meter hohe Steppengras an ihren Rändern, der wilde, undurchdringliche Hain, der die Reste der Uferstraße beherrschte, soweit das Auge reichte -das war alles, was von ihrer wunderschönen Phantomwelt übrig blieb.
    Sascha fühlte sich im tiefsten Inneren verletzt, dass sie diese Welt nie mit eigenen Augen würde sehen können. Sie hatte nur noch die Wahl zwischen dem Tod und der Rückkehr in die Metro. Nirgends auf der Welt gab es auch nur einen einzigen dieser hochgewachsenen Menschen in bunten Kleidern.

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