Metro 2034
auflagen.
Nun durfte sie die Augen öffnen. Langsam hob sie ihre Lider. Zuerst misstrauisch, mit gesenktem Kopf, doch dann immer mutiger sah sich Sascha an diesem seltsamen Ort um, an dem sie gelandet war.
Über ihrem Kopf war Himmel. Echter Himmel, strahlend, unermesslich. Hier gab es mehr Licht, als ein Scheinwerfer je produzieren konnte. Alles war in gleichmäßiges Grün getaucht. An einigen Stellen hingen niedrige Wolken, doch dazwischen öffnete sich ein wahrer Abgrund.
Die Sonne!Durch ein dünnes Wolkengeflecht hatte sie sie erblickt: ein Kreis von der Größe eines Zündhütchens, weiß gescheuert, so grell, dass sie jeden Augenblick ein Loch in Saschas Brille brennen konnte. Ängstlich wandte sie sich ab, wartete kurz und wagte doch wieder einen verstohlenen Blick. Ein wenig enttäuschend war es schon: Eigentlich handelte es sich nur um ein gleißendes Loch am Himmel was sollte die ganze Vergötterung? Doch nein: Es ging ein Zauber von ihr aus, eine Anziehungskraft, etwas Bewegendes. Als Sascha aus der Dunkelheit jener Höhle gekommen war, in der die Tiere hausten, hatte der Ausgang fast ebenso stark geleuchtet. Was, dachte sie plötzlich, wenn die Sonne auch so ein Ausgang war, durch den man an einen Ort fliehen konnte, an dem es niemals dunkel wurde? So dass man der Erde entkam, genauso wie sie soeben dem Untergrund entstiegen war? Sie merkte, dass von der Sonne eine schwache, kaum spürbare Wärme ausging - wie von einem lebendigen Wesen.
Sascha stand inmitten einer Steinwüste, rund um sie herum halb eingefallene alte Häuser. Die schwarzen Fenster
öffnungen türmten sich fast zehn Reihen hoch, so riesig waren diese Gebäude. Und es gab unendlich viele davon, sie verdeckten einander, drängelten sich vor, wie um Sascha besser betrachten zu können. Hinter den hohen Gebäuden blickten noch höhere hervor, und dahinter wiederum waren die Umrisse absoluter Giganten zu erkennen.
Unglaublich, aber Sascha konnte sie alle sehen!Sie waren zwar in dieses dumme Grün getaucht, wie die Erde unter ihren Füßen, die Luft und dieser wahnsinnige, gleißende, bodenlose Himmel, aber dennoch eröffneten sich ihr unvorstellbare Weiten. Auch wenn sie ihre Augen längst an die Dunkelheit gewöhnt hatte, so waren sie doch nie dafür gemacht gewesen.
In ihren nächtlichen Stunden am Abgrund der Metrobrücke hatte sie nur die hässlichen Bauten im Umkreis von etwa hundert Metern jenseits des hermetischen Tors gesehen; dahinter war die Dunkelheit stets zu dicht gewesen, und selbst Sascha, die unter der Erde geboren war, konnte diese Schichten nicht durchdringen.
Sie hatte sich zuvor nie ernsthaft gefragt, wie groß die Welt war, in der sie lebte. Für sie hatte es immer nur diesen kleinen, dämmerigen Kokon gegeben, ein paar Hundert Meter in jede Richtung -dahinter hatte der letzte Abgrund begonnen, der Rand des Universums, die absolute Finsternis. Und obwohl sie wusste, dass die Erde in Wirklichkeit noch viel größer war, hatte sie sich nie ein Bild von ihr machen können.
Nun begriff sie, dass das völlig aussichtslos gewesen wäre.
Seltsamerweise verspürte sie überhaupt keine Angst, so allein inmitten dieser unermesslichen Ödnis. Als sie früher aus dem Tunnel heraus bis an den Abgrund gekrochen war, hatte sie sich immer gefühlt, als hätte man sie aus ihrem Panzer gezogen - nun kam er ihr wie eine Schale vor, aus der sie endlich geschlüpft war. Bei Tageslicht war jede Gefahr von weitem zu sehen, und Sascha hatte mehr als genug Zeit, sich zu verstecken und zu verteidigen. Und auf einmal regte sich in ihr zaghaft ein bislang unbekanntes Gefühl: zu Hause angekommen zu sein.
Der Wind trieb runde Knäuel aus stachligen Zweigen über den Platz, heulte monoton durch die zerklüfteten Häuserreihen, wehte Sascha in den Rücken, sprach ihr Mut zu, ermunterte sie, diese neue Welt zu erkunden. Sie hatte ohnehin keine andere Wahl: Um in die Metro zurückzukehren, hätte sie erneut jenes Gebäude betreten müssen, in dem sich all die grausigen Wesen befanden
und nun schliefen sie sicher nicht mehr. Bisweilen tauchten in den Eingängen kurz ihre blassen Körper auf und verschwanden sogleich wieder. Tageslicht war ihnen offenbar unangenehm. Doch was würde geschehen, wenn die Nacht anbrach? Wenn Sascha vor ihrem Tod noch etwas von dem erblickten wollte, was der Alte ihr beschrieben hatte, so musste sie sich so weit wie möglich von hier entfernen. Also lief sie los.
Noch nie hatte sie sich so klein gefühlt. Es schien
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