Metro2033
»Allem Anschein nach ist dies tatsächlich ein lebendiger Mensch gewesen. Aber jetzt ist er ohne Zweifel tot. Und das ist nicht dasselbe. Na gut, wenn du unbedingt willst, kannst du ja später wiederkommen, um dein Totenfeuer anzuzünden, oder was immer ihr in solchen Fällen sonst zu tun pflegt. Aber jetzt steh auf!«
Artjom erhob sich widerwillig.
Trotz aller Proteste nahm der Unbekannte mit entschlossenen Bewegungen Bourbon den Rucksack ab, warf ihn sich über die Schulter, packte Artjom am Arm und marschierte schnell los. Anfangs fiel Artjom das Gehen schwer, doch mit jedem neuen Schritt schien sich ein Teil der überschäumenden Energie des Mannes auf ihn zu übertragen. Der Schmerz in den Beinen nahm ab, sein Verstand lichtete sich allmählich. Er betrachtete das Gesicht des anderen. Er war sicher über fünfzig, hatte aber ein erstaunlich frisches und lebhaftes Aussehen. Die Hand, mit der er Artjom stützte, war fest und zeigte während des gesamten Weges keine Anzeichen von Ermüdung. Die schon etwas ergrauten, akkurat geschnittenen Haare und der kurze, exakt rasierte Kinnbart ließen Artjom zweifeln - der Mann machte irgendwie einen zu gepflegten Eindruck für einen Bewohner der Metro, insbesondere für jenen verlorenen Ort, an dem er offenbar lebte.
»Was ist deinem Freund passiert?«, fragte der Unbekannte nach einer Weile. »Nach einem Überfall hat es nicht ausgesehen, höchstens, wenn er vergiftet wurde. Ich hoffe sehr, dass es nicht das ist, woran ich jetzt denke.«
»Nein. Er ist von selbst gestorben.« Artjom wusste nicht, wie er die Umstände von Bourbons Tod anders beschreiben sollte. Er selbst begann erst jetzt allmählich zu ahnen, was der Grund gewesen war. »Eine lange Geschichte.«
In diesem Moment weitete sich der Tunnel plötzlich, und sie standen in der Station. Etwas hier erschien Artjom merkwürdig, ungewohnt, und es vergingen ein paar Sekunden, bis er begriff, was es war. »Gibt es hier etwa ... kein Licht?«, fragte er verzagt.
»Hier gibt es keine Macht. Es ist niemand da, der den Bewohnern Licht geben könnte. Deshalb muss jeder, der Licht braucht, es sich selbst beschaffen. Einige sind dazu in der Lage, andere nicht. Aber keine Angst, glücklicherweise gehöre ich zur ersten Gruppe.« Geschickt schwang sich der Mann auf den Bahnsteig und reichte Artjom die Hand.
Durch den ersten Bogen betraten sie den Mittelgang. Es war ein langer Saal mit Säulen und Bögen zu beiden Seiten und der üblichen Metallwand, die den Weg zu den Rolltreppen versperrte. An einigen Stellen warfen kleine Lagerfeuer ein verzagtes Licht, doch ansonsten war die Sucharewskaja in völlige Dunkelheit getaucht - ein trostloser Anblick. An den Feuerstellen tummelten sich kleine Häuflein von Menschen, manche schliefen auf dem Boden, und zwischen den Feuern irrten seltsame, in Fetzen gehüllte Gestalten gebückt umher. Sie alle drängten sich in der Mitte des Saals zusammen, möglichst weit von den Tunneln entfernt.
Das Feuer, zu dem der Mann Artjom führte, brannte merklich heller als die anderen und fand sich etwas abseits.
»Irgendwann wird diese Station bis auf den Grund abbrennen«, murmelte Artjom, während er niedergeschlagen den Gang betrachtete.
»Ja, in vierhundertzwanzig Tagen«, erwiderte sein Begleiter ruhig. »Du solltest sie also besser vorher wieder verlassen. Ich jedenfalls habe genau das vor.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Artjom verblüfft. Augenblicklich musste er an alle die Geschichten von Magiern und Geistheilern denken. Er musterte das Gesicht seines Gegenübers, suchte darin nach Spuren überirdischer Weisheit.
Der Mann lächelte. »Das sehende Mutterherz ist unruhig ... Du musst jetzt schlafen. Dann lernen wir uns kennen und reden weiter.«
Bei diesen Worten überkam Artjom wieder jene ungeheure Müdigkeit, die sich im Tunnel vor der Rischskaja, in seinen Albträumen und nach dieser letzten Willensprüfung angestaut hatte. Außerstande sich zu widersetzen, sank er auf ein Stück Segeltuch neben dem Feuer, legte sich den Rucksack unter den Kopf und fiel in einen langen, schweren, leeren Schlaf.
6
DAS RECHT DES STÄRKEREN
Die Decke war so verrußt, dass von der Tünche nichts mehr zu sehen war. Artjom starrte sie an und begriff nichts. Wo war er?
»Aufgewacht?«, hörte er eine bekannte Stimme sagen. Sogleich setzte sich aus den vielen verstreuten Gedanken- und Ereignisschnipseln wieder das Bild des gestrigen Tages zusammen. War es tatsächlich der gestrige gewesen? Alles
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