Metro2033
könne es hier gar nicht heller werden, sondern nur noch dunkler, nämlich dann, wenn die Karawanen kein Holz mehr für das Lagerfeuer brachten. Die Uhren über den Tunneleingängen waren längst erloschen. Hier gab es keine Stationsleitung, niemand kümmerte sich, und Artjom fragte sich, warum Khan ihm einen guten Abend gewünscht hatte, wenn es doch nach Artjoms Berechnungen Morgen oder sogar schon Mittag sein musste.
»Ist es denn jetzt Abend?«, fragte er verwundert.
»Bei mir schon«, erwiderte Khan nachdenkl ich.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun, Artjom, du kommst offenbar von einer Station, wo die Uhren richtig gehen, wo man sie mit Respekt behandelt, wo man die eigenen Uhren nach den roten Ziffern über dem Tunneleingang stellt. Bei euch gibt es eine Zeit für alle, genauso wie das Licht. Hier ist es umgekehrt, niemand kümmert sich um die anderen. Niemand braucht uns, die es hierher verschlagen hat, mit Licht zu versorgen. Versuch mal, das den Leuten hier vorzuschlagen - sie werden es für eine absurde Idee halten. Jeder, der Licht braucht, muss es selbst mitbringen. Und genauso verhält es sich mit der Zeit: Wer Zeit braucht, weil er das Chaos fürchtet, bringt seine Zeit mit. Jeder hat hier seine eigene, und jeder eine andere, je nachdem, wer wann aus dem Takt gekommen ist. Aber alle haben gleichermaßen recht. Jeder glaubt an seine eigene Zeit und richtet seinen Rhythmus danach aus. Bei mir ist es jetzt Abend, bei dir Morgen - na und? Jemand wie du bewahrt auf seiner Reise seine Uhr genauso vorsichtig auf wie die Urmenschen ein glühendes Stück Kohle in einem verrußten Schädel, um daraus vielleicht wieder Feuer hervorzuholen. Es gibt aber auch solche, die ihr Kohlestück verloren oder sogar weggeworfen haben. In der Metro ist ja, wie du weißt, eigentlich immer Nacht, und deshalb hat Zeit keinen Sinn, wenn man sie nicht genau befolgt. Zerschlage deine Uhr, und du wirst sehen, wie sich die Zeit verwandelt. Eine höchst interessante Erfahrung. Sie verändert sich, bis du sie nicht mehr wiedererkennst. Sie ist nicht mehr zerstückelt, aufgeteilt in Abschnitte, Stunden, Minuten, Sekunden. Die Zeit ist wie Quecksilber: Sobald du versuchst, sie in kleine Stücke zu teilen, wächst sie augenblicklich wieder zusammen, wird erneut ganz und gestaltlos. Die Menschen haben sie gezähmt, sie an ihre Taschen- und Stoppuhren gekettet, und für jene, die die Zeit noch in Ketten halten, fließt sie gleich. Doch lass sie frei, und du wirst sehen: Sie fließt für jeden anders. Für den einen langsam und zäh, und er misst sie in gerauchten Zigaretten oder Atemzügen. Für den anderen dagegen rast sie dahin, und ihre Einheit sind gelebte Menschenleben. Du glaubst, jetzt ist Morgen? Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass du recht hast. Sagen wir fünfundzwanzig Prozent. Dennoch hat dieser Morgen keinen Sinn, denn er ist dort, an der Oberfläche, wo es kein Leben mehr gibt. Zumindest kein menschliches mehr. Hat das, was sich da oben abspielt, eine Bedeutung für diejenigen, die dort niemals sind? Nein. Deshalb sage ich zu dir >Guten Abend<, und du kannst mir, wenn du willst, gerne mit >Guten Morgen< antworten. Und was diese Station betrifft, so hat sie überhaupt keine Zeit, außer einer höchst seltsamen: Jetzt sind es vierhundertneunzehn Tage, und gezählt werden sie rückwärts.« Khan verstummte und trank seinen Tee weiter.
Artjom schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass die beiden Stationsuhren der WDNCh geradezu wie Heiligtümer verehrt wurden. Was würde die Stationsleitung von der Idee halten, dass es genau genommen gar keine Zeit mehr gab - dass die Existenz der Zeit ihren Sinn verloren hatte!
Nach einer Weile sagte Khan: »Wolltest du mir nicht erzählen, was mit deinem Freund passiert ist?«
Artjom zögerte, ob er diesem Mann von Bourbons Tod und dem geheimnisvollen Geräusch erzählen sollte. Doch dann begriff er, wenn er überhaupt jemandem diese Dinge anvertrauen konnte, so nur einem Menschen, der sich für die letzte Inkarnation Dschingis Khans hielt und glaubte, die Zeit existiere nicht mehr. Also begann er verworren und nervös, ohne auf die Reihenfolge der Ereignisse zu achten, mehr auf seine eigenen Empfindungen als auf Tatsachen achtend, seine bisherigen Abenteuer zu schildern.
Als er geendet hatte, sagte Khan leise: »Das sind die Stimmen der Toten.«
»Wie bitte?«
»Du hast die Stimmen der Toten gehört. Du sagtest, anfangs habe es sich wie Flüstern oder Rascheln angehört?
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