Metro2033
spüren den Tunnel nicht. Die meisten von ihnen spüren nicht einmal das, was du spürst. Wir müssen weiter, auch wenn uns das jetzt immer schwerer fallen wird.«
Sie betraten die Station. Der helle Marmor, mit dem die Wände verkleidet waren, unterschied sich kaum von dem am Prospekt Mira oder an der Sucharewskaja, aber dort waren die Wände und Decken so verrußt und verschmutzt gewesen, dass man den Stein kaum noch sah. Hier hingegen hatte er sich in all seiner Schönheit gehalten, und es fiel schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Die Menschen hatten diesen Ort vor so langer Zeit verlassen, dass nichts mehr auf ihre einstige Anwesenheit hinwies. Auch sonst war die Station in erstaunlich gutem Zustand - offenbar hatte sie nie Überschwemmungen oder Brände erlebt. Wäre da nicht die absolute Dunkelheit und die dicke Staubschicht auf Boden, Bänken und Wänden gewesen, man hätte den Eindruck haben können, dass in jedem Moment ein Strom von Passagieren um die Ecke biegen oder ein Zug mit melodiösem Warnsignal aus dem Tunnel einfahren konnte. In all den Jahren hatte sich hier fast nichts verändert; schon Artjoms Stiefvater hatte ihm ehrfürchtig davon berichtet.
An der Turgenewskaja gab es keine Säulen - die niedrigen Bögen hatte man in großen Abständen in die dicke Marmorwand geschnitten. Die Lampen der Karawane waren nicht stark genug, um durch die Dunkelheit des Saals hindurch zur gegenüberliegenden Wand zu schneiden, daher entstand ein Gefühl, als ob hinter diesen Bögen überhaupt nichts sei, nur schwarze Leere. Als stünde man am Rande des Universums, an dem Abgrund, wo das Weltengebilde aufhörte.
Entgegen Khans Befürchtungen äußerte niemand den Wunsch, hier haltzumachen, und bald waren sie ans andere Ende der Station gelangt. Die Männer sahen besorgt aus und erwähnten immer häufiger, dass sie so schnell wie möglich an einen bewohnten Ort gelangen wollten.
»Spürst du es, die Stimmung schlägt um«, bemerkte Khan leise. Er hielt einen Finger in die Höhe, als ob er die Windrichtung prüfen wollte. »Wir müssen wirklich schnell fort von hier. Sie spüren das mit ihrer eigenen Haut genauso gut wie ich mit meiner Intuition. Doch irgendetwas hindert mich daran weiterzugehen. Warte kurz ...« Vorsichtig zog er aus seiner Innentasche den Plan heraus, den er Mentor nannte, wies die anderen an, nicht von der Stelle zu weichen, löschte aus irgendeinem Grund seine Lampe, machte ein paar Schritte und verschwand in der Dunkelheit.
Als er fort war, löste sich einer von der vorderen Gruppe und näherte sich Artjom langsam, fast widerstrebend. Und als er ihn ansprach, lag so viel Schüchternheit in seiner Stimme, dass Artjom in ihm nicht gleich jenen knorrigen, bärtigen Streithals erkannte, der ihnen an der Sucharewskaja gedroht hatte. »Hör mal, Junge, es ist nicht gut, hier stehen zu bleiben. Sag ihm, dass wir uns fürchten. Klar, wir sind viele, aber wer weiß ... Es liegt ein Fluch auf diesem Tunnel, und auf der Station hier auch. Sag ihm, dass wir weitergehen müssen. Hörst du? Sag es ihm ... bitte.« Der Mann wandte den Blick ab und eilte zurück.
Dieses letzte »Bitte« überraschte Artjom auf unangenehme Weise, ja es erschütterte ihn. Er machte ein paar Schritte nach vorn, um näher bei der Gruppe zu sein und ihre Gespräche zu hören. Plötzlich merkte er, dass seine gute Stimmung verflogen war. In seinem Kopf, wo ein kleines Orchester eben noch Marschmusik geschmettert hatte, war es nun bedrückend leer und still. Nur der Widerhall des Winds war zu hören, der trostlos im vor ihnen liegenden Tunnel vor sich hin wimmerte. Artjoms ganzes Wesen erstarrte in beklemmender Erwartung, in dem Vorgefühl unabwendbarer Veränderungen. Im Bruchteil eines Augenblicks schien sich ein unsichtbarer Schatten über ihn zu legen, er fühlte sich kalt und unwohl. Die Ruhe und Sicherheit, die er seit seinem Eintritt in den Tunnel ständig empfunden hatte, waren auf einmal verschwunden. Er erinnerte sich an Khans Worte, dass dies nicht seine eigenen Stimmungen seien - nicht seine eigene Freude - und dass Veränderungen seines Zustands nicht von ihm abhingen. Nervös fuhr er mit dem Lichtstrahl umher, denn er hatte das unangenehme Gefühl, dass jemand in der Nähe war. Trüb flammte der verstaubte weiße Marmor auf, doch der dichte schwarze Vorhang zwischen den Bögen blieb trotz Artjoms panischem Hin- und Herleuchten undurchdringlich, wodurch sich die Illusion, dass dahinter die Welt zu Ende war, nur
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