Metro2033
das ihn jedes Mal so sehr erschreckte. Wusste Khan eigentlich, was er tat, wenn er nicht nur die Leute in der Gruppe, sondern auch das Wesen des Tunnels herausforderte? Wusste er wirklich Bescheid darüber? Spürte er es? Der Abschnitt auf dem Linienplan - dem Mentor - war nicht schwarz gewesen. Artjom hätte schwören können, dass er blass-orange gewesen war wie die gesamte Linie. Die Frage war nur: Wer von ihnen beiden war der Blinde?
»Komm schon! Was wartest du noch? Verstehst du nicht, jedes Zögern kann uns das Leben kosten. Deine Hand! Gib mir endlich deine Hand!« Khan schrie bereits, doch Artjom ging langsam und mit kleinen Schritten von ihm weg. Er sah immer noch zu Boden, während er auf die Gruppe zustolperte.
»Komm, Junge«, hörte er von dort, »komm mit uns. Lass dich lieber nicht mit diesem Verrückten ein. Ist gesünder.«
»Dummkopf!«, rief Khan ihm nach. »Du wirst umkommen mit ihnen! Wenn dir schon dein eigenes Leben nichts bedeutet, denk wenigstens an deine Mission!«
Endlich wagte es Artjom aufzuschauen. Er blickte in Khans weit aufgerissene Augen. Nicht ein Fünkchen Wahnsinn war darin zu erkennen, nur Verzweiflung und Müdigkeit. Er hielt inne - doch in diesem Augenblick legte sich eine Hand auf seine Schulter und zog ihn sanft mit sich. »Gehen wir! Soll er lieber allein verrecken, anstatt dich mit ins Grab zu ziehen.« Nur mit Mühe erfasste Artjom den Sinn dieser Worte, das Denken fiel ihm schwer, und nach einem Augenblick des Zögerns ließ er sich mitziehen.
Die Gruppe setzte sich in Bewegung, näherte sich dem schwarzen Schlund des südlichen Tunnels. Dabei bewegten sie sich erstaunlich langsam, als kämpften sie gegen einen Widerstand, als gingen sie unter Wasser.
Plötzlich sprang Khan mit überraschender Leichtigkeit vom Bahnsteig auf die Gleise, überwand mit zwei Sätzen die Entfernung zur Gruppe, streckte den Mann, der Artjom festhielt, mit einem Faustschlag zu Boden, packte den Jungen quer am Rumpf und zog ihn mit aller Macht zurück.
Artjom erlebte den ganzen Vorgang wie in Zeitlupe. Khans Sprung - der mehrere Sekunden zu dauern schien - hatte er mit stummer Verwunderung beobachtet, und mit der gleichen tumben Verblüffung hatte er zugesehen, wie der schnauzbärtige Mann in der Segeltuchjacke neben ihm schwer zu Boden sackte.
Doch in dem Augenblick, als Khan ihn mit sich riss, beschleunigte sich die Zeit wieder, und die Reaktion der anderen, die sich nach dem Schlag umgedreht hatten, erschien ihm fast blitzartig. Schon machten sie erste Schritte auf Khan zu, legten ihre Gewehre an, während sich dieser mit weichen Schritten seitwärts gehend zurückzog, wobei er mit dem einen Arm den noch immer bewegungslosen Artjom an sich drückte, ihn hinter sich hielt, mit seinem Körper schützte. In der anderen, nach vorn ausgestreckten Hand schwankte Artjoms neues, matt schimmerndes Sturmgewehr.
»Geht weg«, rief Khan heiser. »Ich sehe keinen Sinn darin, euch umzubringen. In weniger als einer Stunde seid ihr ohnehin tot. Lasst uns in Ruhe. Geht!« Schritt für Schritt wich er in die Mitte der Station zurück, bis die Männer unentschlossen zurückblieben und ihre Silhouetten in der Dunkelheit zu verschwimmen begannen.
Einige hastige Bewegungen waren zu hören - offenbar hoben sie den Schnauzbärtigen vom Boden auf -, dann begab sich die Gruppe zum Eingang des Südtunnels. Sie wollten wohl nichts riskieren.
Erst jetzt senkte Khan das Gewehr und wies Artjom in scharfem Ton an, auf die Plattform zu steigen. »Noch ein wenig, und ich verliere die Lust daran, dich zu retten, mein junger Freund«, zischte er ihn mit unverhohlenem Ärger an.
Gefügig kletterte Artjom nach oben, dicht gefolgt von Khan. Nachdem dieser seinen Reisesack geholt hatte, trat er durch einen der schwarzen Bögen und zog Artjom hinter sich her.
Der Mittelgang der Turgenewskaja war nicht lang. Linker Hand endete er an einer Marmorwand, während ihn am anderen Ende - soweit dies im Schein der Taschenlampen zu erkennen war - eine Sperre aus Wellblech abschloss. Leicht vergilbter Marmor bedeckte alle Wände, nur die drei großen Bögen, unter denen sich der Durchgang zur Station Tschistyje Prudy befand - zur Kirowskaja, wie die Kommunisten sagten -, waren mit groben grauen Betonblöcken zugemauert. Die Station war völlig leer, nicht ein einziger Gegenstand lag herum. Weder von Menschen noch von Ratten oder Kakerlaken gab es hier eine Spur. Während sich Artjom umsah, fielen ihm Bourbons Worte ein: Vor den
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