Metro2033
sondern wartete direkt vor dem Erdwall auf ihn.
»Schau, was ich dir jetzt zeige!« Oleg kletterte auf einige Steine, bis er sich auf einer Höhe mit den Metallrohren befand, die im Geröll verschwanden. Dann holte er sein Schächtelchen heraus und legte es auf eines der Rohre. »Hör zu!«, sagte er begeistert und drehte die Kurbel.
Das Rohr schwang mit und ertönte, füllte sich gleichsam mit jener traurigen Melodie aus der Schatulle. Der Junge hielt sein Ohr an das Rohr und fuhr wie verzaubert fort, die Kurbel zu drehen und der metallischen Schachtel Töne zu entlocken. Dann hielt er eine Sekunde lang inne, lauschte weiter, lächelte freudig, sprang von dem Steinhaufen herunter und hielt Artjom die Schachtel hin. »Da, probier mal!«
Artjom konnte sich schon vorstellen, wie sich der Klang der Melodie verändern würde, wenn er durch das Metall eines hohlen Rohrs geleitet wurde. Doch brannten die Augen des Jungen so sehr vor Begeisterung, dass er kein Spielverderber sein wollte. Er stieg nach oben, stellte die kleine Schachtel auf das Rohr, drückte sein Ohr gegen das kalte Eisen und begann den Hebel zu drehen. Die Musik erklang plötzlich so laut, dass Artjom den Kopf beinahe wieder zurückgezogen hätte. So gut kannte er die Gesetze der Akustik nicht - wie ein Stück Eisen diese harmlos klingelnde Melodie um ein Vielfaches verstärken, ihr Volumen verleihen konnte, war für ihn ein unbegreifliches Wunder. Er drehte die Kurbel weiter und spielte das kurze Motiv noch dreimal durch. Dann nickte er Oleg zu. »Super!«
Oleg lachte. »Und jetzt hör noch mal. Ohne zu spielen, nur hören!«
Artjom zuckte mit den Schultern, drehte sich zu dem Posten um - ob Melnik und Anton schon zurück waren? - und legte sein Ohr erneut an das Rohr. Was war dort wohl jetzt zu hören? Der Wind? Ein Widerhall jener seltsamen Geräusche, die er vom Tunnel zwischen der Alexejewskaja und dem Prospekt Mira her kannte?
Aus unvorstellbarer Ferne drangen gedämpfte Geräusche mühsam durch den dicken Erdwall heran. Sie kamen vom Park Pobedy, das stand außer Zweifel. Artjom erstarrte, lauschte weiter, und dann wurde ihm mit Eiseskälte bewusst, dass er etwas völlig Unmögliches hörte: Musik.
Jemand oder etwas wiederholte in einigen Kilometern Entfernung die sehnsüchtige Melodie aus der Musikschatulle - Note für Note. Und es war kein Echo. An einigen Stellen machte der unbekannte Interpret nämlich Fehler, hielt die eine oder andere Note etwas länger, doch das Motiv als solches blieb nach wie vor erkennbar. Was aber noch viel verblüffender war: Die Melodie wurde offenbar nicht von den kleinen metallischen Zungen der Schatulle hervorgebracht, sondern ihr Klang erinnerte eher an ein Summen ... Oder ein Singen? Ein unverständlicher Chor aus vielen Stimmen? Nein, es war doch ein Summen ...
»Und, spielt es?«, fragte Oleg mit zufriedenem Gesicht. »Lass mich auch noch mal hören!«
Artjoms Lippen klebten aneinander. »Was ist das?«, murmelte er heiser.
»Musik! Das Rohr spielt selber!«
Das beklemmende Gefühl, das dieses furchtbare Singen bei Artjom auslöste, berührte den Jungen offenbar gar nicht. Für ihn war das alles nur ein lustiges Spiel. Er fragte sich nicht, wer oder was dort auf die Melodie antworten konnte, an einer Station, die seit einem Jahrzehnt keinen Kontakt mehr zur übrigen Welt hatte und wo jegliches Leben längst erloschen war. Oleg kletterte wieder auf die Steine, um sein Maschinchen noch einmal anzuwerfen, doch Artjom hatte plötzlich eine furchtbare Angst um den Jungen ergriffen. Er packte Oleg am Arm und zog ihn trotz dessen Protesten hinter sich her, zurück zum Ofen.
»Feigling! Feigling!«, rief Oleg. »Nur kleine Kinder glauben an diese Märchen!«
Artjom blieb stehen und sah ihm in die Augen. »Welche Märchen?«
»Dass sie die Kinder klauen, wenn die im Tunnel den Rohren zuhören wollen.«
Artjom zog ihn weiter zum Ofen. »Wer ist das: >sie«
»Die Toten!«
Das Gespräch brach ab. Der Posten, der vorhin vom Fluch der Station gesprochen hatte, zuckte zusammen und starrte sie mit einem derart aufmerksamen Blick an, dass Artjom die Worte im Hals stecken blieben. Gerade noch rechtzeitig hatten sie ihr kleines Abenteuer beendet, denn Anton und der Stalker kehrten soeben zurück. Und sie hatten noch einen dritten Mann dabei. Artjom setzte den Jungen schnell auf seinen Platz.
Der Schichtführer ließ sich neben Artjom auf einen Sandsack nieder. »Entschuldige, es hat etwas gedauert. Hat er sich
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