Meuterei auf der Deutschland
und Prägungen. Für berufliche wie private Kontexte fanden sie oftmals im Internet einen Raum, in dem sie mit Gleichgesinnten zusammenkommen sowie die Spielregeln selbst festlegen konnten und sich keiner starren Ordnung unterordnen mussten. Diese Erfahrungen übertragen nun offenbar viele Piraten auf die Politik. Alles, was sie nicht verstehen, was tendenziell verschlossen oder insidermäßig organisiert ist, erscheint ihnen zunächst einmal suspekt. Deswegen besinnen sie sich auf die Grundlagen, die Wurzeln der demokratischen Ordnung. Sie greifen beherzt zu, wenn es gilt, Ideen und Konzepte zu übertragen. Daraus muss kein konzises Bild von Demokratie erwachsen. Wohl aber resultiert daraus eine entschiedene Kritik an ihrem aktuellen Zustand.
Das Vorhaben, die Willensbildung im Parlament von aggregierten Großgruppen abzulösen, ist im Endeffekt jedoch eine Kampfansage an den Korporatismus deutscher Prägung. Mit der Forderung nach individuellen Mitwirkungsrechten anstelle repräsentativer Entscheidungsverfahren bedienen die Piraten allerdings auch die populistische Politikverdrossenheit. Es ist geradezu ein »Grundaxiom« des Populismus, sich auf den »gesunden Menschenverstand« zu berufen (Priester 2012, S. 4). Hiervon ausgehend wird unter anderem das bestehende Staatswesen – die Politik, ihre Repräsentanten und Institutionen – abgelehnt. Dagegen setzt man dann Forderungen nach mehr und unmittelbarer Beteiligung der Bürger.
Wohlgemerkt: Die Piraten sind nicht vorsätzlich populistisch, diese Tendenz erwächst vielmehr aus jenem übersteigerten Idealismus, der sie politisch anspornt. Sie verkennen dabei allerdings, warum die Dinge so laufen, wie sie laufen, und dass das existierende System auch Vorteile hat: dass etwa die Organisation eines Parlaments in Fraktionen stabile Mehrheitsverhältnisse garantiert; dass es sinnvoll sein kann, gesellschaftliche Großgruppen bei der Entwicklung und Durchsetzung politischer Entscheidungen einzubinden; dass das festgeschriebene Prinzip der Eigen- und Mitverantwortung der zentralen Akteure diese auch diszipliniert. Zugespitzt: Die Piraten werfen Fragen auf, die auch Politikstudenten im ersten Semester stellen. Man kann, aber man muss ihnen dieses Maß an Unwissen nicht zwingend zum Vorwurf machen; man sollte sich vielmehr fragen, weshalb das politische System selbst seine Funktionsweise offenkundig nicht erfolgreich vermitteln kann. Insoweit sind die Piraten also ein Reflex auf einen eklatanten Mangel des politischen Systems selbst.
Jenseits der Themenschwerpunkte Freiheit im Internet und Transparenz in der Politik findet sich im Grundsatz- und in den Wahlprogrammen der Piraten ein zweiter Komplex an Diagnosen und daraus abgeleiteten Forderungen. Hier scheint die Partei teilweise ins Beliebige abzugleiten, was sich aber auf ihre netzkulturelle Prägung zurückführen lässt. Im Wesentlichen geht es in diesem Bereich um diskriminierungsfreie Zugänge zu Infrastrukturen jeder Art (Siri/Villa 2012). Mit Blick auf das Ideal der Diskriminierungsfreiheit sind die Piraten zu dem Schluss gekommen, dass Infrastrukturleistungen kostenlos bereitgestellt und dass die durch privatwirtschaftliche Akteure ausgelöste Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden muss. Das umfasst nicht allein netzpolitische Fragestellungen, sondern betrifft etwa auch den Zugang zu Bildung oder Mobilität. Diese Haltung schließt auch die instinktive Ablehnung privater Eigentums- und Verfügungsrechte an Kultur und Wissen ein, weil dadurch aus Sicht der Piraten schöpferische und gesellschaftliche Potenziale blockiert werden.
Konkret läuft dies auf die Forderung hinaus, das geltende Urheberrecht fundamental zu reformieren. In ihrem Grundsatzprogramm setzen sich die Piraten dafür ein, »das nichtkommerzielle Kopieren, Zugänglichmachen, Speichern und Nutzen von Werken nicht nur zu legalisieren, sondern explizit zu fördern, um die allgemeine Verfügbarkeit von Informationen, Wissen und Kultur zu verbessern«; diese stelle schließlich eine »essentielle Grundvoraussetzung für die soziale, technische und wirtschaftliche Weiterentwicklung unserer Gesellschaft dar« (Piratenpartei Deutschland 2011, S. 6). Ganz ähnlich argumentieren sie im Bereich des Patentrechts, das als Hemmnis für Innovationen und den technischen wie ökonomischen Fortschritt beschrieben wird (ebd., S. 7).
An dieser programmatischen Ausrichtung der Partei hat sich reichlich Kritik entzündet: Die Forderungen im Bereich der
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