Meuterei auf der Deutschland
(Jun 2009, S. 25 ff.; Wiesendahl 2006, S. 7 ff.).
Die Grundsatzprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien ähneln sich hinsichtlich ihres Aufbaus: Sie beinhalten erstens eine historische Erzählung, in der auf ideengeschichtliche Wurzeln und auf historische soziale Bewegungen verwiesen wird, deren Erbe man pflegt und als deren Bannerbewahrer man sich versteht. Zweitens liegt ihnen ein Menschenbild zugrunde, das Auskunft darüber gibt, wie weit politisches Handeln gehen kann und darf. Drittens legen die Parteien einen Grundwertekanon dar, der sich meistens an den drei aus der Französischen Revolution überlieferten Idealen Freiheit, Gleichheit (oder Gerechtigkeit) und Brüderlichkeit (bzw. Solidarität) orientiert. Die Parteien versuchen dann jeweils, die Spannungen zwischen diesen Werten in spezifischer Weise auszubalancieren. Viertens sind Grundsatzprogramme schließlich immer auch ein Sammelsurium von Forderungen, Visionen, Vorstellungen und Gesellschaftsperspektiven, denen sich eine Partei verschreiben will – wobei der Grad der Konkretisierung oft erheblich variiert.
Parteien sind dabei zumeist bemüht, in ihren Grundsatzprogrammen eine gewisse Stringenz erkennen zu lassen. Trotz des Pragmatismus des politischen Alltags ist ihnen bewusst, dass Visionen und längerfristige Perspektiven hilfreich sein können, da sie den Anhängern einen gesellschaftlichen Fortschritt versprechen, in dessen Interesse auch Rückschläge akzeptabel, Abzweigungen notwendig und Widersprüche auszuhalten sind. Jenseits des politischen Programms ist es im Wesentlichen also dieser ideologische Kern, der den Charakter einer Partei ausmacht, der verschiedene Strömungen integriert und motiviert. Insofern geht es bei der Analyse eines Programms nicht nur um inhaltliche Forderungen und deren argumentative Begründung, sondern auch um Sinnstiftung und die kollektive Gesinnung der Mitglieder, die in ihm zum Ausdruck kommt.
Genau hier liegt allerdings das zentrale Problem der Piraten. Sie sind sich ihres ideologischen Kerns noch unsicher, verfügen über kein umfassendes Programm und auch keine Verfahren, um aus den existierenden Bausteinen verbindliche Positionen abzuleiten. Sie müssen also immer erst einen komplexen Meinungsbildungsprozess anstoßen, bevor sie sich öffentlich artikulieren können. Schnell greifen daher auch Wahlkämpfer zum Smartphone oder Tablet-PC, um nachzusehen, welche Position man eigentlich zu der konkreten Frage einnimmt, die ihnen der Bürger soeben gestellt hat. Viele Piraten scheinen sich geradezu dagegen zu sträuben, auf der Basis eigener Überzeugungen oder des Wissens über die Grundsatzpositionen der Partei Antworten zu geben.
Dennoch lässt sich eine gewisse inhaltliche, im Grundsatzprogramm angelegte Stringenz bei den Piraten nicht leugnen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das oft und schnell auf das griffige Label »Internetpartei« verkürzt, eine Beschreibung, die trotz aller intuitiven Plausibilität bei genauerer Betrachtung problematisch ist. Die Piraten sind nämlich keine Partei für das Netz oder für die Netzpolitik, sondern sie versuchen in erster Linie undüberaus standhaft, die Organisationsprinzipien der Internetkultur auf die Politik zu übertragen. Auf dieser Basis tasten sie sich auf verschiedene Themenfelder vor, die deutlich über bloße Netzpolitik hinausgehen.
So umreißt bereits die Präambel des Programms ein typisches liberales Politikverständnis. Auf der einen Seite steht der Schutz bürgerlicher Rechte – hier festgemacht am Datenschutz; auf der anderen Seite steht die Verwirklichung bürgerlicher Werte von Bildung und Kultur. Der Bezugspunkt ist dabei aber nicht länger die Aufklärung, sondern die Reflexion über den radikalen Transformationsprozess, der als digitale Revolution bezeichnet wird. Durch sie werden laut den Piraten die bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ausnahmslos auf den Prüfstand gestellt (Piratenpartei Deutschland 2011, S. 4). Im Konflikt zwischen Bürger und Staat geht es in erster Linie um die Erneuerung, Bewahrung und Erweiterung von Staatsbürgerrechten, um die Beschränkung der Zugriffsmöglichkeiten der Exe-kutive und die Weiterentwicklung des politischen Systems. Im Konflikt zwischen Allgemeinheit und Wirtschaft geht es hingegen um eine gerechtere und effizientere Verteilung der grundlegenden Ressourcen der Wissensgesellschaft. Den emotionalen Kern, der die Piraten motiviert, bilden jedoch als
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