Meuterei auf der Deutschland
Jens Seipenbusch versuchte, Thiesens Statements zu bagatellisieren, ehe sie mit einer Verwarnung und später mit einem sich über Jahre hinziehenden und mittlerweile gescheiterten Parteiausschlussverfahren gegenzusteuern versuchte. Konterkariert wurden die Bemühungen des Vorstands durch den Bundesparteitag 2009, der Thiesen zum stellvertretenden Mitglied des Parteischiedsgerichts wählte (Häusler 2011, S. 75; Beitzer 2012a).
In den Bundesvorstand schaffte es 2009 sogar Stefan Koenig, der mit den Thesen des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders kokettierte und dann zur Partei »Die Freiheit« wechselte, die er inzwischen schon wieder verlassen hat. Durch solche Fälle sensibilisiert, gehen die Vorstände einiger Landesverbände mittlerweile energischer vor. Als im Frühjahr 2012 öffentlich darüber diskutiert wurde, dass der Landtagskandidat Carsten Schulz unter Berufung auf die Meinungsfreiheit die Leugnung des Holocausts nicht länger unter Strafe stellen wolle, die freie Verfügbarkeit von Hitlers Mein Kampf gutheiße und T-Shirts mit dem Konterfei eines britischen Verschwörungstheoretikers trage, suspendierte der Landesverband Niedersachsen seine Aufstellung (Dörner 2012; Kurz 2012). Schulz bemühte sich dennoch erfolglos um die Spitzenkandidatur in diesem Bundesland und um den Einzug in den Bundesvorstand. Ähnlich erging es Robin Fermann, gegen den nach einer Reihe von unverhohlen antisemitisch konnotierten Äußerungen mittlerweile ein Parteiausschluss angestrebt wird (Fischermann 2012). Kevin Barth aus dem württembergischen Heidenheim musste nach einem ebenso akzentuierten Twitter-Beitrag bereits von seinem Posten als Kreisvorsitzender zurücktreten (Deckert 2012).
Inwiefern die innerparteiliche Meinungsfreiheit auch Ansichten einschließen darf, die außerhalb des bundesrepublikanischen Konsenses stehen, war lange Zeit ungeklärt. In Bezug auf den gescheiterten Ausschluss Thiesens erklärte beispielsweise der Berliner Landesvorsitzende Hartmut Semken, nicht Charaktere wie Thiesen seien ein Problem für die Partei, sondern jene Mitglieder, die die Meinungsfreiheit einschränken wollten (Beitzer 2012b). Mit seinen Aussagen erntete Semken allerdings erbitterten Widerspruch aus den eigenen Reihen (Meiritz/Reinbold 2012). Der Druck der fortgesetzten medialen Debatte über die angebliche Rechtslastigkeit der Piraten veranlasste den Bundesparteitag im April 2012 zu einer unmissverständlichen Erklärung zum Thema Holocaustleugnung, von der man sich zumindest bei dieser Fragezukünftig eine bessere Handhabe verspricht. Gegen allgemeinere antisemitische Aussagen hat man damit allerdings immer noch kein Instrument. Welch große Sprengkraft dabei in diesem Thema liegt, zeigte sich ebenfalls im Zuge der Kandidatenvorstellung auf dem Bundesparteitag. Christian Hufgaard verweigerte seine Meinung zur israelischen Außen- und Sicherheitspolitik, auch der neue Vorsitzende der Partei, Bernd Schlömer, wich diesem Thema aus. Hier ist also noch eine ganze Reihe politischer Tretminen verborgen. Freilich mag die Zurückhaltung in solch sensiblen Bereichen auch anzeigen, dass die Piraten gelernt haben, vorsichtig zu sein. Schließlich hat bislang nur ein Bruchteil der Aktiven Erfahrung mit parteipolitischer Arbeit. Das unterscheidet die Piraten durchaus von den frühen Grünen.
Dort gehörte etwa der einstige CDU -Abgeordnete Herbert Gruhl zu den Gründern. Jürgen Trittin kam vom Kommunistischen Bund, Petra Kelly und Fritz Kuhn waren zuvor bei der SPD , Willi Hoss bei der KPD und der DKP aktiv. Dass enttäuschte Mitglieder sich anderen Parteien zuwenden, ist nicht ungewöhnlich. Solche Parteiwanderer finden sich auch bei den Piraten, und das nicht erst seit dem Berlin-Erfolg. Allerdings, sonderlich prominent waren die Verluste der Altparteien an die Piraten bislang nicht. Bekanntere Mitglieder wie Angelika Beer oder Jörg Tauss, der nach seiner Verurteilung wieder ausgetreten ist, lassen sich in erster Linie als Personen charakterisieren, die zuvor in ihren vorherigen Parteien »in Ungnade gefallen waren« (Jesse 2011, S. 189).
Sowohl qualitativ als auch quantitativ ist der Anteil von Parteiwanderern in der Piratenpartei also gering. Der Großteil der Piraten war zuvor weder parteipolitisch noch nennenswert in Vereinen oder Verbänden engagiert. Allenfalls einzelne Aktivisten aus dem Bereich Netzpolitik und digitale Bürgerrechte finden sich in der Partei wieder. Damit fehlt den Piraten im Gegensatz zu den
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