Meuterei auf der Deutschland
es sich gegenwärtig bei den Piraten, auch wenn ihre Anhänger weniger mit biografischen Blockaden als vielmehr mit der prinzipiellen Fragilität ihrer Lebensläufe zu kämpfen haben. Studiert man eine von der Partei selbst durchgeführte Erhebung (Kegelklub 2012), fällt der überdurchschnittlich hohe Anteil(37 Prozent) an Mitgliedern auf, die beruflich etwas mit IT zu tun haben. Das hat natürlich Auswirkungen auf den Habitus der Piraten: So nutzen sie Symbole und Zeichen, die auch unter Hackern und Computerspielern verbreitet sind. Dazu gehören beispielsweise schwarze Klamotten, T-Shirts mit kryptischen oder verwegenen Motiven und die unter den männlichen Mitgliedern verbreitete Vorliebe für lange Haare und Bartfrisuren. Auch Accessoires wie die mit Aufklebern verzierten Laptops oder das Modegetränk Club Mate gehören zum idealtypischen, etwas klischeehaften Erscheinungsbild der Piraten. Dazu kommt ein spezifischer Jargon, der von Ausdrücken aus der Computer- und Internetkultur durchzogen ist, und eine bestimmte Form der ironischen Kommunikation (Hensel 2012a).
Die System- und Netzwerkadministratoren, Softwareentwickler und Informatiker stellen allerdings eine recht heterogene Klientel dar. Sie verfügen über ein beträchtliches Bildungsniveau, das sie sich jedoch nicht unbedingt auf konventionellen Wegen angeeignet haben. Nicht wenige Piraten haben ihr Studium abgebrochen oder stehen kurz davor, das zu tun; manche haben sich frühzeitig selbstständig gemacht; andere arbeiten bei wechselnden Arbeitgebern oder hangeln sich von Auftrag zu Auftrag. Dementsprechend unterscheidet sich die finanzielle Lage der einzelnen Piraten teils erheblich: Einige sind prinzipiell in der Lage, überdurchschnittlich hohe Einkommen zu beziehen. Das Bundesvorstandsmitglied Matthias Schrade arbeitet immerhin als Finanzanalyst. Der Berliner Abgeordnete Pavel Mayer ist recht erfolgreich als IT -Unternehmer tätig (Fischermann 2012). Andere befinden sich jedoch in einer eher prekären Situation. Gerade im innerparteilich dominanten IT -Bereich ist die Arbeit oft stark projektbezogen. Der stete technologische Wandel bringt es zudem mit sich, dass Qualifikationen und Fähigkeiten schnell veralten und geknüpfte Beziehungen sich auf mittlere Sicht nicht als tragfähig erweisen. In diesem Fall droht der soziale Abstieg – gerade weil formale Bildungstitel oftmals fehlen und nicht mit Mitteln aus den arbeitnehmerfixierten Sozialversicherungen zu rechnen ist. Im Normalfall ist die objektive finanzielle Situation dieser Personen zwar ganz passabel,das Risiko des Abstiegs ist jedoch ein allgegenwärtiger Begleiter. Die entsprechenden Piraten charakterisieren sich deswegen teilweise selbst als »besser verdienendes Prekariat« (zitiert nach Bollmann 2012). Für sie bietet die Partei wie ehedem die Grünen interessante berufliche Perspektiven. In Berlin ist nach dem Einzug ins Abgeordnetenhaus beispielsweise etwa die Hälfte der schon zuvor aktiven Piraten zu einem haupt- oder ehrenamtlichen Mandat oder einem entsprechenden Job gekommen.
Während der bisherige Aktivenkern in Funktionen oder hauptamtliche Positionen überwechselt, strömen zugleich zahlreiche Neumitglieder in die Partei. Dabei konkurrieren stets zwei Logiken miteinander. Die Bestandsmitglieder haben bereits eine Identität entwickelt, die sie natürlich bewahren wollen. Die Neumitglieder sind mit dieser Identität, den Symbolen und Ritualen noch nicht wirklich vertraut. Solange die Veteranen die Partei allerdings quantitativ wie qualitativ dominieren, fügen sich die Neuen mehr oder minder bereitwillig in die überlieferten Formen ein. Viele fühlen sich sogar bemüßigt, besonders emsig mitzuarbeiten. Gerade weil sie beweisen wollen, dass sie wirklich dazugehören, übernehmen sie dann nicht nur Rituale und Ausdrucksformen, sondern legen auch ganz besonderen Wert auf deren Anwendung. Sobald die Neumitglieder jedoch zahlenmäßig die Oberhand gewinnen, ist die Versuchung groß, all die eigentümlichen Dinge infrage zu stellen, die die Altvorderen fast schon ehrpusselig pflegen. Die zahlreichen Neumitglieder teilen nämlich möglicherweise eine gemeinsame Identität, die auf Ereignisse zurückgeht, die ihrem Eintritt zugrunde liegen, die jedoch nichts oder nur wenig mit den Motiven gemein haben muss, die einst für die Bestandsmitglieder entscheidend waren. Die Folge sind programmatische, strategische oder kulturelle Reibungen zwischen den beiden Gruppen.
Trotz der letzten
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