Mexiko, mein anderes Leben (German Edition)
am Computer und chattete mit ihren Freundinnen in Deutschland. Ihren Frust darüber, dass sie jetzt ein Weihnachtsfest weitab von ihrer Clique erleben musste, ließ sie uns täglich spüren. Adrian, elf Jahre alt, war furchtbar aufgeregt, weil er endlich das erste Mal in seinem Leben allein die Kerzen anzünden durfte. Rosmarie, die vierundachtzigjährige Oma war nur damit beschäftigt, herauszubekommen, welche Zutaten sie benötigte, um mexikanische Guacamole zu zubereiten. Und Heinz war ständig auf Exkursion durch sein Haus und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, wie schön doch alles geworden war. Niemand interessierte sich für mein Heiligabend-Essen, das ich doch so liebevoll in vielen Stunden Arbeit zubereitet hatte. Nein, das stimmt nicht ganz. Irgendwann, nach langer Wartezeit beschlossen dann Robert und ich, doch an der noch leeren Tafel Platz zu nehmen, da das Essen nun schon so langsam kalt wurde. Wir beide ganz allein erhoben ein Glas Sekt auf unser erstes gemeinsames Weihnachten. Auf ein Weihnachten in einem anderen Land, in einem anderen Leben, zusammen mit Menschen, denen das alles nicht wichtig war. Und warum sollte denn das Fest auch so wichtig sein? Weil wir es so krampfhaft wollten und dann doch nichts erreichen konnten? Wir mussten die Dinge nehmen, wie sie waren. Nachdem wir beide uns schon so richtig gelabt hatten an meinem deutschen Dinner, trudelte nach und nach der Rest der Familie ein. Der Hunger hatte gesiegt über all die anderen Gedanken und Interessen. Weihnachten ging vorüber und voller Spannung erwarteten wir den Jahreswechsel. Silvester verlief dann ähnlich. Nur mit einem Unterschied: Bereits um neun Uhr waren die drei Kinder, die Oma und auch Heinz eingeschlafen. Um uns herum schlummerte die Familie aus München in seliger Ruh, und ich tanzte mit Robert allein in das neue Jahr. Das waren unsere ersten gemeinsamen Feiertage in einem fremden Land, in dem immer Sommer war.
Nach Heinz’ Abreise kehrte das normale Leben noch lange nicht wieder ein, denn einen Teil seiner chaotischen Familie hatte er bei uns zurückgelassen. Der elfjährige Adrian und die Oma Rosmarie blieben noch einige Wochen bei uns. Das war eine aufregende Zeit. Es kostete jeden Tag viel Geduld und Nerven, unser Leben neu zu organisieren. Morgens in aller Frühe musste Adrian in eine mexikanische Schule gefahren werden, denn er sollte Spanisch lernen, was aber nicht gelang. Außerdem war er ein hyperaktives Kind, das fast den ganzen Tag beaufsichtigt und beschäftigt werden wollte. Jeden Abend brachte ich ihn ins Bett und schlüpfte dann wieder in meine Rolle als Kindergärtnerin. Mit der Gitarre sang ich ihm Schlaflieder, die von der Hoffnung begleitet waren, Adrian würde so schnell wie möglich in das Land der Träume hinübergleiten. Doch je länger ich darauf wartete, je mehr Lieder musste ich singen. Manchmal war es schon fast Mitternacht! Meine Stimme klang heiser, Robert war schon lange eingeschlafen und Adrian sah mich immer noch mit großen, erwartungsvollen Augen an. Rosmarie wollte unbedingt noch in Mexiko bleiben, um sich an die Zeit zu erinnern, die sie zusammen mit ihrem Mann und der Familie hier gelebt hatte. Sie war aber nicht der Typ, um einfach nur in ihren Erinnerungen zu schwelgen. Jeden Morgen stand sie schon um fünf Uhr auf, um sich in unserem Garten mit den vielen stachligen Kakteen nützlich zu machen. Um diese Zeit herrschte noch totale Dunkelheit, was Rosmarie aber nicht davon abhielt, dem Unkraut zu Leibe zu rücken. Durch die Osteoporose war ihr Rücken gekrümmt und die Augen dem Boden nah. Vielleicht liebte sie auch darum die Gartenarbeit so sehr. Es war ihre normale Haltung und wir Menschen mit einem noch aufrechten Gang können das vielleicht nicht nachvollziehen. Mit einer Hacke in der Hand und dem elektrisch erhellten Garten beseitigte Rosmarie also frühmorgens das Unkraut. An sich war das ja auch gut so, aber der Gedanke, dass die alte Dame schon vor Sonnenaufgang mit dem Garten kämpfte, ließ uns dann auch nicht mehr ruhig schlafen. Wir waren wach und warteten, dass es hell wurde, um Adrian zur Schule zu fahren. Das war unser Leben mit Adrian und seiner Großmutter. Dabei kamen wir beide viel zu kurz und hofften ganz still, dass diese Zeit bald vorbeigehen würde.
Ende Februar 2005 schickten wir die beiden dann auf die weite Reise nach Hause, zurück zu Heinz nach München. Rosmarie erlaubte sich den Luxus im Rollstuhl zu reisen und Adrian
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