Mexiko, mein anderes Leben (German Edition)
solches würde gar nicht genutzt. Das gesamte Leben der Großfamilie spielte sich auf dem Hof ab. Und auf diesem Hof standen wir beide nun, aber Jorge und Maria waren nicht zu sehen. In einer Ecke ruhte eine Hundemutti, an deren Zitzen zwölf kleine Welpen um den besten Platz kämpften, denn alle waren sehr hungrig und wollten schnell satt werden. Gleich daneben stand ein großer Herd, vollgestellt mit Pfannen und Töpfen und gierige Fliegen umkreisten die Reste der letzten Mahlzeit.
Überall lagen Tüten vollgestopft mit Müll. Eine Katzenfamilie versuchte gerade mit List und Tücke die Tüten aufzukratzen, um an den Inhalt zu kommen. Um einen großen Holztisch standen ungeordnet zehn weiße Plastikstühle, die alle mit irgendetwas vollgepackt waren. Der Tisch war nicht abgeräumt und eine kleine Katze untersuchte gerade die Reste, die sich noch auf den Tellern befanden. Unter dem Tisch, geschützt vor der Sonne, stand ein Pappkarton und darin schlummerte auf weichen Kissen ein kleines Baby, welches im Schlaf zufrieden an seinem Schnuller saugte. In der Spüle an der Wand türmte sich schmutziges Geschirr und aus dem Hahn tröpfelte Wasser über die verklebten Teller und Töpfe. Zwischen zwei Bäumen schaukelte eine Hängematte, in der sich ein junges Mädchen im Schlaf genüsslich rekelte. Sicherlich war es die Mutti des kleinen Babys in dem Pappkarton unter dem Tisch. Über den ganzen Hof war in wirrem Zickzack eine Wäscheleine gespannt, auf der Unterwäsche, Babysachen und bunte T-Shirts leise im leichten Wind hin und her flatterten. Dieser Hof wirkte wie eine Müllkippe, doch seltsamerweise strahlte er eine erstaunliche Ruhe und Zufriedenheit aus. Nur Jorge und Maria waren nicht zu sehen.Wir klopften und riefen, doch nichts rührte sich. Auch die Mutti und das Baby waren tief und fest eingeschlafen. Als wir gerade wieder gehen wollten, erschien Jorge in der Tür zum Haus und fummelte mit gerötetem Kopf noch verlegen an seinem Hosenknopf herum. Die mehr als vollschlanke Maria stand mit zerzausten Haaren und einem glückseligen Lächeln im Gesicht in seinem Schatten und zog sich die Kittelschürze glatt. Obwohl es eindeutig war, wobei wir die beiden gerade eben gestört hatten, begrüßten sie uns sehr herzlich. Maria kramte in einem Regal nach einer Flasche Tequila, die sie auch gleich neben einer Tüte mit vollen Windeln finden konnte. Wir sollten uns doch setzen, aber das war fast unmöglich, weil nirgendwo ein freier Stuhl oder etwas Ähnliches zu sehen war. Dann sprang die junge Mutter, die nun ebenfalls erwacht war, aus der Hängematte und bot uns ihren Platz dort an. Um nicht unhöflich zu sein, versuchten wir uns in die Matte zu zwängen. So schaukelten wir etwas unbeholfen und verkrampft mit dem Tequila in der Hand in dieser Hängematte, die an zwei Mangobäumen befestigt war. Schließlich bekamen wir dann auch das Chlor und umarmten Jorge und Maria, als seien wir schon jahrelang gute Freunde. An diese Begegnung muss ich immer wieder denken. Von der Zufriedenheit, dem Glück und der Gastfreundschaft dieser Menschen waren wir beeindruckt. Ein paar Tage vergingen und das Wunderchlor von Jorge zeigte seine Wirkung. Das Wasser im Pool veränderte wie durch Zauberei seine Farbe von einem dreckigen Grün zu einem wasserblauen Türkis. Obwohl immer noch viel Arbeit vor uns lag, konnte ich mich eines Morgens nicht mehr beherrschen. Mein Wunsch, in diesem großen Pool mit dem kristallklaren Wasser zu schwimmen, ließ sich nicht mehr verdrängen. Wie die Reichen dieser Welt, die morgens vor dem Frühstück den seidenen Morgenmantel abstreifen und in das glasklare Wasser ihres eigenen Swimmingpools eintauchen, so wollte auch ich mich fühlen. Während ich diesen Augenblick genoss, wurde mir bewusst, wie entscheidend sich mein Leben verändert hatte: Nicht mehr jeden Morgen zur Arbeit hetzen und am Nachmittag vollkommen nervös und erschöpft nach Hause kommen, um mich in den verbleibenden Stunden bis zum nächsten Tag zu erholen. Wochen, Monate, Jahre immer derselbe Ablauf. In diesem zwanghaften Trott brauchte ich nun nicht mehr zu leben, sondern konnte frei entscheiden, wie ich meinen Tag gestalten wollte.
Trotz aller Katastrophen, die uns hier erwarteten, war das ein wunderschönes Lebensgefühl. Ich hatte meine große Liebe gefunden und mit Robert zusammen durfte ich eine Freiheit kennenlernen, die mir bisher fremd gewesen war. Nicht nur das Wasser machte mich schwerelos und
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