Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Das wäre alles, den Rest hätten wir, seine Kinder, von Deutschland aus erledigt. Er hätte auch einfach mitkommen können, aber das wollte er erst recht nicht. Obwohl alle seine Kinder seit über einem Vierteljahrhundert in Deutschland leben, wollte er von diesem Land offenbar nichts wissen.
In dieser Woche ging mir manchmal durch den Kopf, wie es denn wäre, wenn ich wieder in unserem Dorf leben würde. Ich wäre bei anne , hätte die Freundinnen und Nachbarn aus meiner Kindheit und Jugend um mich. Der Gedanke war verlockend. Alles war vertraut, und ich vermisste es in Deutschland. Hier wäre ich endlich nicht mehr so allein. Aber ich wusste auch, dass ich meine deutsche Heimat vermissen würde. Immerhin hatte ichlänger in Almanya gelebt als in der Türkei. Ich hatte dort meine Arbeit, meine Wohnung und ein paar Freunde. Und schließlich waren meine Kinder dort geboren und lebten in Deutschland.
Drei Monate nach meinem Besuch bei den Eltern, es ist Ende Mai 2005, und das Buch ist fast fertig, schlägt das Schicksal eine neue Seite auf. Morgens um halb sechs klingelt das Telefon. Enes, ein Freund aus Ballidere, ist dran. Er kann kaum sprechen, stockt und schluchzt, dann teilt er mir mit, dass mein Vater vor zwei Stunden gestorben ist. Ich muss mich setzen. Das konnte doch nicht sein, gerade vor zwei Tagen hatte ich erfahren, dass Vater krank war und nun sollte er tot sein? Ich konnte es nicht fassen und war ratlos. Was sollte ich jetzt tun?
Vier Stunden später saß ich in einer Maschine Richtung Türkei. Meine Geschwister waren auch schon unterwegs. Wir würden uns am Flughafen treffen und zusammen in unser Dorf fahren. Spätabends saßen wir drei Geschwister schweigend in Enes’ Kleinbus und versuchten das Unabänderliche zu begreifen. Kurz vor Mitternacht kamen wir im Dorf an. Anne erwartete uns bei Enes’ Frau. Als sie uns sah, brach sie zusammen.
Am Samstagmittag, mein Vater war sechsunddreißig Stunden tot, wurde er beerdigt. Nachdem der Hoca ihn in einem Nebenraum der Moschee gewaschen und hergerichtet hatte, brachte man ihn zu uns nach Hause und bahrte ihn auf der Terrasse auf. Fast das ganze Dorf hatte sich bei uns im Haus und im Vorgarten versammelt. Auch meine Schwiegereltern waren gekommen. Sie gingen auf mich zu und sprachen mir das Beileid aus, und dann kam Mutter und umarmte mich. Ich war wie versteinert, denn das war das Letzte, was ich erwartet hätte nach allem, was sie mir angetan hatte. Am liebsten hätte ich sie weggeschubst, aber das ging nicht, es waren zu viele Leute um uns herum.
Der Hoca sprach ein letztes Gebet, dann schulterten sechs von Vaters Freunden den Sarg und machten sich auf den Weg zum Friedhof. Wir, anne , meine Schwester und ich, sowie die Frauenaus dem Dorf blieben zu Hause. Bei uns in der Türkei finden Beerdigungen ohne Frauen statt. Sie verabschieden sich zu Hause von ihren Toten. Die Zeremonie auf dem Friedhof, das ist Männersache. Ich habe Vater erst ein paar Tage später auf dem Friedhof besucht. Es regnete in Strömen, als ich an seinem Grab stand und betete. Ich war sehr traurig. Obwohl ich mein Leben lang ein schwieriges Verhältnis mit ihm gehabt hatte, tat es mir jetzt unendlich Leid. Ich hätte ihm gerne noch einiges gesagt, mich mit ihm ausgesöhnt. Aber nun war es zu spät, er war tot.
Insgesamt blieb ich zwei Wochen bei meiner anne . Der Tod meines Vaters hatte sie sehr mitgenommen, und es fiel mir sehr schwer, mich von ihr zu trennen. Meine Geschwister und ich hatten sie zwar überredet, zu uns nach Deutschland zu kommen, aber so schnell würde das nicht gehen. Es waren viele Formalitäten zu erledigen, und anne würde erst im Herbst oder Winter kommen können. Ich bete zu Gott, dass sie so lange durchhält.
Ich jedenfalls musste wieder nach Hause, heim zu meinen Kindern. Die beiden Jüngeren brauchten mich noch. Und was war mit meinen beiden Ältesten? Würde ich je wieder richtigen Kontakt zu Can und Muhammed haben? Von Muhammed weiß ich, dass es ihm gut geht. Dass er immer noch bei seinem Vater lebt und eine Freundin hat. Mir gegenüber ist er immer noch sehr zurückhaltend und reserviert. Und Can? Was ist mit ihm? Er weiß, dass sein Großvater gestorben ist, aber sein Beileid ausgedrückt hat er mir bisher nicht. Warum ruft er mich nicht an? Warum kommt er nicht vorbei? Ich kann nur warten und hoffen.
Nachwort
von TERRE DES FEMMES
»Ich hatte ja keine Ahnung, was das bedeutet, Ehe, Liebe. Ich war doch noch ein Kind.« Das sagt Ayşe
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