Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
seit einigen Jahren in Deutschland. Das war dieses ferne Land, in das immer mehr Leute aus unserem Dorf gingen, um zu arbeiten. Er war einer der Ersten gewesen, der vor drei, vier Jahren weggegangen war. Im letzten Sommer schließlich war er das erste Mal auf Urlaub gekommen und hatte uns viele schöne Sachen mitgebracht. Wir Kinder kamen aus dem Staunen gar nicht heraus, als er aus seinem Koffer eine Überraschung nach der anderen zauberte. Für uns hatte er vor allem Kleidung dabei. Hosen, Röcke, Pullis und Blusen, gut, sie waren nicht mehr ganz neu, aber doch in einem guten Zustand. Sein Umzug nach Deutschland war für uns Kinder ein Wendepunkt: Seitdem waren wir immer gut angezogen.
Aber er hatte nicht nur schöne Dinge mitgebracht, sondern auch Aufregendes zu erzählen. Ich erinnerte mich jetzt lebhaft an die vielen Abende, die wir vor dem Haus verbracht und ihm zugehört hatten. Eine dieser spannenden Geschichten war dievon dem großen Silbervogel. Stieg man in seinen Bauch, erhob er sich in die Lüfte und flog mit einem davon. Ja, genau, das musste der Vogel sein, der da oben flog. Ich erzählte Fidan von meiner Theorie, und bald waren wir uns einig, dass sich dort oben ein Flugzeug vorwärts bewegte. Wir begannen zu träumen. Wo fliegt es wohl hin? Saß vielleicht der Onkel drin? War er auf dem Weg zu uns? Wir wussten es nicht, aber wie gebannt starrten wir in den Himmel, bis es verschwand.
Vor lauter Aufregung hatten wir den Korb vergessen. Hungrig wandten wir uns jetzt unserem Korb zu und verspeisten das mitgebrachte Brot und den Ziegenkäse mit großem Appetit. Als wir satt waren, liefen wir zu einer Quelle und tranken das frische, kalte Gebirgswasser. Oh, das Leben konnte so herrlich sein! Wir sprangen über die Wiesen und pflückten Blumen, die wir anschließend zu wunderschönen Blumenkränzen flochten.
»So einen Kranz möchte ich mal tragen, wenn ich heirate,« sagte Fidan plötzlich.
Da musste ich lachen und fragte sie kichernd: »Willst du etwa schon heiraten?«
Sie wurde ernst und sagte, dass ihre Eltern sicherlich irgendwann mal den richtigen Mann für sie finden würden. Dann wollte sie ganz viele Kinder kriegen und so leben wie die Eltern. Fidan hatte Glück, ihre Eltern waren glücklich verheiratet und kamen sehr gut miteinander aus. Während es bei uns ständig Streit und Prügel gab, kannte sie Schreiereien und Ohrfeigen nur aus Erzählungen. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung von der Zukunft, ich wollte nur, dass dieser Tag nie zu Ende ging. Aber irgendwann mussten wir hinunter ins Tal, und da blies wieder ein anderer Wind.
Vor meinem Vater war ich ständig auf der Hut. Immer versuchte ich, alles richtig zu machen. Mein ganzes Denken kreiste ständig darum: Nur ja nichts falsch machen, nur ja nicht seinen Ärger erregen. Aber es ließ sich nicht vermeiden, und ich machte Fehler. Ich war doch noch klein. Meine Mutter versuchte mich zu beschützen so gut es ging, aber sie war nur die Frau im Haus undhatte nichts zu sagen. Bei uns war das jedenfalls so. In manchen Familien lief das anders, da bestimmte die Frau. Aber dann waren es immer die älteren Frauen, die jungen hatte nichts zu sagen. Bei uns aber herrschte der Vater, und zwar uneingeschränkt. Das sollte ich in nicht allzu weiter Ferne sehr deutlich spüren.
Obwohl wir keine Uhr hatten, wussten wir immer, wann es Zeit zum Aufbruch war. Wenn die Sonne sich im Westen senkte, sammelten wir all unsere Schützlinge ein und machten uns auf den Weg ins Tal. Bei Anbruch der Dunkelheit waren wir meistens wieder im Dorf. Wir lieferten die Tiere ab, verabschiedeten uns voneinander und freuten uns auf morgen. Vielleicht würden wir dann wieder losziehen?
Die Abende verliefen immer gleich. Wir Großen kamen vom Schaf- oder Kühehüten nach Hause, die Mutter mit der kleinen Schwester vom Feld, und der Vater kam aus dem Kaffeehaus. Er war meistens der Letzte. Anne bereitete in aller Eile das Abendessen vor, und Hanife und ich halfen ihr dabei. Oft aßen wir abends wieder Suppe, manchmal gab’s aber auch Brot und Käse, oder Eier. Im Sommer hatten wir immer frische Tomaten, Gurken oder Paprika auf dem Tisch. Auch die Mahlzeiten liefen nach dem immer gleichen Muster ab. Wenn die Suppe fertig war, bekam zuerst mein Vater einen Teller voll. Der saß inzwischen wie ein Pascha auf dem einzigen Stuhl im ganzen Haus, vor ihm der Tisch. Sobald die dampfende Suppe vor ihm stand, fing er an zu essen. Auf uns gewartet hat er nie. Wir anderen saßen
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