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Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt

Titel: Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayse
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wir dort oder fanden Schutz, wenn es regnete. Anne nahm in ihrer Verzweiflung eine der Holzkisten und haute sie mit voller Wucht gegen den Bauch. Sie wollte dieses neue Kind nicht haben, auf gar keinen Fall. Dann stieg sie auf eine Mauer und sprang herunter, einmal, zweimal, dreimal. Das Springen und Einschlagen auf das Ungeborene, sie muss in der zehnten oder zwölften Woche schwanger gewesen sein, hat irgendwann gewirkt. Sie bekam Blutungen, die jedoch bald wieder aufhörten. Aber meine anne dachte sich nichts dabei. Ihre Gesundheit kam sowieso immer zu kurz, und außerdem war sie damals zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Als sie wieder nach Hause kam, war Mehmet verschwunden. Sie wusste nicht, ob er sich jetzt tatsächlich auf den Weg nach Deutschland gemacht hatte oder ob er nur ins Kaffeehaus gegangen war.
    Also ist sie wieder aufs Feld gegangen und hat ihre Arbeit erledigt. Abends, als wir alle schon zu Hause waren, kam auch der Vater. Er nahm seine Schirmmütze ab – das tragen die Männer bei uns – und zog seine Jacke aus. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und fragte unwirsch, wann es etwas zu essen gebe. Er war also nicht nach Deutschland gegangen, aber sie hat auch nie erfahren, was ihn bei der Familie und in Ballidere gehalten hatte. Er sprach – wie immer – kein Wort darüber. Mutter übrigens auch nicht. Über seinen Fluchtversuch aus der Ehe legten sie beide den Mantel des Schweigens. Und es ging weiter wie bisher.
    Die Blutungen hatten aufgehört, und anne ging davon aus, dass sich die Schwangerschaft damit erledigt hatte. Sie hatte ja auch Erfahrung. Nach meiner Schwester war sie insgesamt noch dreimal schwanger gewesen, aber jedes Mal hatte sie das Kind abgetrieben. Die Methoden waren ebenso einfach wie wirksam: Einmal hatte sie sich mit einer Hühnerfeder von unten in den Bauch gestoßen oder mit schweren Gegenständen auf den Bauch eingehauen, auch von hohen Mauern war sie schon gesprungen – immer mit Erfolg. Es gab also auch diesmal keinen Grund zur Sorge.
    Am nächsten Morgen ging sie ihrer Arbeit nach, als ob nichts geschehen wäre. Das ging eine ganze Woche so. Bis es passierte. Sie war beim Vieh auf der Weide, als es ihr plötzlich schlecht wurde und sie sich mit letzter Kraft zu ihrer Freundin schleppen konnte. An deren Haustür brach sie zusammen. Ohnmächtig lag sie im Eingang. Annes Freundin bekam Angst und fing an zu schreien, da kam einer der Nachbarn angelaufen. Er war einer der wenigen im Dorf, der schon ein Auto besaß. Er hob meine Mutter auf, trug sie in seinen Wagen und brachte sie auf dem schnellsten Weg ins nächste Krankenhaus. Wie durch ein Wunder wurde sie – in letzter Sekunde – gerettet. Das Kind war im Bauch meiner anne regelrecht verfault, und sie hatte eine Blutvergiftung bekommen und wäre fast daran gestorben. Ich weiß nicht, wie Vater das damals aufgenommen hat, anmerken ließ er sich jedenfalls nichts. Wir Kinder wurden – wie immer – nicht informiert. Man sagte uns lediglich, dass Mama im Krankenhaus sei und ein paar Tage dort bleiben müsse.
     
    Abgesehen von dieser Katastrophe, verlief unser Leben immer gleich. Es war bestimmt von Arbeit: In aller Frühe aufstehen, in die Schule gehen oder aufs Feld, zu Mittag essen, wieder arbeiten, zu Abend essen und dann ins Bett gehen, schlafen. In Ballidere gab es wenig Zerstreuung. Nur die Männer hatten ihr Kaffeehaus. Dort verbrachten sie Stunden, tranken Tee, rauchten und spielten Tavla . Die Frauen hatten nur sich und die Kinder. Wenn sie Zeit hatten, konnten sie sich gegenseitig besuchen. Einzige Abwechslung: Einmal im Monat war Markt. Da kamen die fliegenden Händler schon frühmorgens in unser Dorf und bauten ihre Stände auf. Bis in den Nachmittag hinein priesen sie ihre Waren an: Kleider, Jacken, Hosen, Socken, Unterwäsche, Handtücher und Stoffe. Aber da wir ohnehin nie Geld hatten, konnten wir uns dort auch nichts kaufen.
    Dennoch sind wir immer hingegangen. Auf dem Marktplatz herrschte reger Betrieb. Die Frauen in ihren geblümten Röcken und den bunten Pumphosen, mit ihren bestickten Kopftüchernauf dem Kopf, liefen in Zweier-, Dreiergruppen schwatzend über den Platz. Mal hielten sie hier an, mal dort, um die Waren zu begutachten oder zu bestaunen. Anders die Männer. Sie saßen auf der Dorfbank und betrachteten das Treiben von der Ferne. Sie trugen graue oder braune Schirmmützen, Jacketts und Hosen in ähnlich gedeckten Farben. Die Kleidung war meist abgetragen, denn Geld hatten die

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