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Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt

Titel: Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayse
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gelang mir gerade noch, den Wecker auf fünf Uhr zu stellen, bevor mich ein bleierner Schlaf übermannte.
    Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, habe ich ihn nicht gehört. Es war einer von diesen altmodischen, extrem lauten Weckern, den man sicherlich bis in die Nachbarwohnung hörte, so laut schrillte er. Aber ich schlief wie eine Tote. Da wurde ich durch plötzliche und heftige Faustschläge auf Rücken und Schultern aus dem Schlaf gerissen. Mustafa musste erst um halb sieben aufstehen und war außer sich, dass er schon um fünf geweckt worden war. Morgens vor dem Aufstehen schon eine Tracht Prügel – so begann nicht nur dieser Tag.
    Von dieser Warte aus betrachtet, war die Arbeit in der Fabrik die reinste Erholung. Kein gewalttätiger Ehemann, keine nörgelnde Schwiegermutter, stattdessen einfach nur Ruhe. Die meisten Kollegen waren nett. Bald schon freundete ich mich mit einigen der türkischen Arbeiterinnen an und schwatzte in den Pausen mit ihnen. Das war neu für mich. Außerhalb der Familie hatte ich bis jetzt zu niemandem Kontakt gehabt. Nun lernte ich junge Frauen kennen, die schon länger in Deutschland lebten. Sie erzählten mir aus ihrem Leben, wo sie herkamen, wie ihre Männer waren und wie viele Kinder sie hatten. Hier lernte ich auch die ersten deutschen Wörter. Sie sagten mir, dass kahve Kaffee heißt, oder çay Tee. Aber ich war natürlich noch weit davon entfernt, die Sprache meiner neuen Heimat zu verstehen.
    Ich weiß nicht mehr genau, wie, aber irgendwann brachte ich den Mut auf, meine Schwiegermutter zu fragen, ob sie mir ein paar Sachen in almanca beibringen würde. Sie lebte jetzt schon seit über zehn Jahren in diesem Land und sprach – für mein Gefühl – fließend Deutsch, und für mich war sie damals eine guteLehrmeisterin. Ich zeigte auf Gegenstände, und sie nannte mir den deutschen Begriff dafür. Wenn ich auf ekmek deutete, sagte sie Brot. So habe ich jeden Tag ein paar neue Wörter gelernt. Und nach ein paar Monaten hatte ich zumindest einen gewissen Grundwortschatz. Natürlich hätte ich die Sprache auch durch das Fernsehen lernen können. Aber wir hatten zu der Zeit keinen Apparat. Erst nachdem ich schon zwei, drei Jahre in Deutschland war, kaufte die Schwiegermutter ein Fernsehgerät. Allerdings hätte ich ohnehin keine Zeit zum Gucken gehabt. Bei der Arbeit hätten wir auch nicht fernsehen können, weil man sich trotz aller Eintönigkeit konzentrieren musste. Auch für andere Vergnügungen war nie Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir einmal ins Kino gegangen wären oder zum Tanzen oder in ein Restaurant. Nein, mein Leben sah immer gleich aus: Aufstehen, arbeiten, essen, arbeiten, drei, vier Stunden schlafen, wieder arbeiten. Meinen Sohn habe ich in seinem ersten Lebensjahr kaum gesehen.
     
    Nachdem ich zehn Monate in meiner Firma gearbeitet hatte, beantragte ich Urlaub. Das erste Mal seit zwei Jahren wollte ich nach Hause fahren. Nicht um Urlaub zu machen, nein, meine Reise hatte einen anderen Zweck. Ich fuhr in die Türkei, weil ich Can zu meiner Mutter bringen wollte. Im ersten Jahr hatte ja die Schwiegermutter quasi rund um die Uhr auf den Kleinen aufgepasst. Aber dann, mehr oder weniger von einem Tag auf den nächsten beschloss sie, dass damit jetzt Schluss sei. Wie üblich erklärte sie sich nicht, sondern sagte nur: »Du musst für Can eine andere Lösung finden, ich kann nicht mehr für ihn da sein.« Diskutieren konnte man mit ihr nicht, das wusste ich, also blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu meiner anne zu bringen. Vater hatte auch Urlaub und wollte mich und den Kleinen begleiten. Die anderen blieben in München. So sind wir drei eines Tages Ende Juli in den Zug nach Istanbul gestiegen. Natürlich konnten wir uns keinen Schlafwagen leisten. Nein, wir hatten Sitzplätze in der zweiten Klasse und mussten die ganze Fahrtauf unseren Sitzen ausharren. Das war besonders wegen Can anstrengend, weil er noch so klein war und keinen eigenen Sitzplatz hatte. So musste er entweder bei mir oder Vater auf dem Schoß sitzen. Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwie haben wir diese vierzig Stunden überstanden. In Istanbul angekommen, machten wir einen kurzen Stopp, um etwas zu essen, dann stiegen wir in den Bus und fuhren weiter nach Zentralanatolien.
    Was war das für ein Hallo, als wir dort ankamen! Mustafa hatte ein paar Wochen vor unserer Abfahrt einen Brief geschrieben und meinen Eltern angekündigt, dass ich kommen würde. Auch ich war furchtbar

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