Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
aussah, als er das Baby im Arm hielt. Er war ja selbst noch ein Junge. Bei mir war es sicher ähnlich. Mit fünfzehn Jahren war ich zum ersten Mal Mutter geworden, Mustafa war noch keine siebzehn.
Nach einer Woche konnte ich das Krankenhaus verlassen. Ich war froh, denn das Essen schmeckte mir nicht, und ich verstand immer noch kein Wort Deutsch. Aber mittels Zeichensprache hatten es die Kinderschwestern immerhin geschafft, mir das Wickeln beizubringen und auch beim Stillen haben sie mir in den ersten Tagen sehr geholfen. Dennoch fühlte ich mich mit dem Neugeborenen ziemlich unsicher. Ob ich das alles hinkriegen würde? Mustafa und Mutter holten mich aus der Klinik ab. Wie selbstverständlich trug sie das Baby, und Mustafa und ich trotteten hinter ihr her. Vielleicht hätte ich damals protestieren sollen. Es war doch schließlich mein Kind.
Ganze vierzig Tage lang war ich dann Mutter meines Sohnes. Ich habe ihn gestillt, gewickelt und umsorgt. Natürlich hat sie mir dabei geholfen und mir das Baby auch oft abgenommen. Sie war ja die erfahrene Mutter. Und ich war ihr dankbar für die Hilfe. Zeitweilig half ich Mutter da auch schon wieder bei der Heimarbeit. Eigentlich war es ideal, ich arbeitete zu Hause und hatte das Baby immer bei mir. Aber nach sechs Wochen sollte sich mein Leben wieder radikal ändern. Und wieder hatte mich keiner gefragt. Mutter hatte für mich eine feste Anstellung in der Firma besorgt, für die sie seit Jahren Heimarbeit machte. Am 1. Oktober 1979 sollte ich meine erste Arbeitsstelle in Deutschland antreten.
Nein, ich habe nicht protestiert. Vielleicht war ich mit dem Kind überfordert. Außerdem war Can ja versorgt. Er war den ganzen Tag bei Mutter , und abends und nachts würde er bei mir sein. So jedenfalls hatte ich das geplant. An meinen ersten Arbeitstag erinnere ich mich gut. Ich war um fünf Uhr aufgestanden und ging dann mit einer Freundin von uns, die in der gleichen Firma arbeitete, zusammen dorthin. Als wir ankamen, stelltesie mich dem Schichtführer vor. Der war sehr freundlich und brachte mich an meinen Arbeitsplatz. Die Freundin blieb eine Weile bei mir, um zu übersetzen. Aber die Aufgabe war nicht schwierig: Ich sollte wieder Schalter montieren, nur diese waren größer als die, die wir zu Hause zusammenbauten. Der Vorarbeiter gab mir eigenes Werkzeug und zeigte mir, wie diese Schalter zu montieren seien. Im Prinzip waren es die gleichen Teile, nur größer eben. Wozu sie gebraucht wurden, wusste ich nicht. Das interessierte mich auch nicht. Hauptsache, ich konnte arbeiten und Geld verdienen. Das würde die Schwiegermutter glücklich machen. Der erste Tag verging wie im Flug. Wenn ich Verständigungsprobleme hatte, kam eine türkische Kollegin und half mir. Um vierzehn Uhr, nach acht Stunden, war mein erster Arbeitstag beendet. Ich war müde, aber zufrieden.
Ich musste zu Fuß nach Hause laufen. Dort, wo wir wohnten, gab es keinen Bus, und ich hatte kein Fahrrad. Es war noch warm, und ich genoss den Spaziergang. Aber meine Freude verflog, als ich die Wohnung betrat. Mutter stand in der Tür und machte mir Vorwürfe. Warum ich so lange gebraucht hätte? Ich hätte doch schon vor einer halben Stunde daheim sein müssen? Böse zischte sie: »Ich weiß genau, wie lange man von der Arbeit nach Hause braucht. Ich bin schließlich den Weg selbst lang genug gegangen. Setz dich hin und hilf mir endlich.« Wie ein geprügelter Hund ging ich in die Küche und setzte mich an den Tisch. Die kleinen Schalter warteten schon. Nicht mal Can hatte ich richtig begrüßen können, zum Essen war natürlich auch keine Zeit, schweigend schob Mutter mir die Kiste hin. Wir arbeiteten dann durch bis abends um sechs. Danach gab es Abendessen, wie üblich – Bohnen und Fleisch.
Nach dem Essen erledigte ich die Hausarbeit. Kümmerte mich um Berge von Geschirr und machte die Küche sauber. Mutter brachte die Kinder ins Bett. Auch meinen Sohn. Er sollte – bis auf Weiteres – bei ihr schlafen. Das verstand ich nicht. Warum konnte er nicht mit zu uns kommen? Ich stillte ihn schließlich noch. Aber wieder habe ich geschwiegen. Ich ließ sie gewähren.
Vielleicht war ich damals auch ein wenig froh, ungestört schlafen zu dürfen. Obwohl ich schon seit fünf Uhr morgens auf den Beinen war und den ganzen Tag in der Fabrik gearbeitet hatte, machten Mutter und ich auch an diesem Tag bis kurz nach Mitternacht Heimarbeit. Halbtot fiel ich schließlich ins Bett, heilfroh, dass Mustafa schon lange schlief. Es
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