Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
Mutter , dann Vater . Die Religion bekam mit der Pilgerreise meiner Schwiegereltern einen anderen Stellenwert in unserer Familie. Beide beteten fortan regelmäßig fünfmal am Tag, und freitags gingen sie in die Moschee. Mutter trug selbstverständlich wieder ein Kopftuch. Auch uns Schwiegertöchter versuchte sie dazu zu überreden. Wann immer ich bei ihr war, fing sie an zu schwärmen und zu erzählen, wie schön es sei, jeden Tag mit Allah zu sprechen. Und jedes Mal fragte sie mich, ob ich es mir nicht überlegen wolle. Aber ich wollte nicht. Nein, nicht weil ich nicht gläubig war. Im Gegenteil, ich redete jeden Tag mit Allah , aber auf meine Weise. Ich brauchte dazu weder ein Kopftuch noch eine Moschee. Allah war auch so bei mir und gab mir Kraft.
Auch Mustafa änderte seine Einstellung zur Religion. Ich weißnicht, ob das etwas mit den Eltern zu tun hatte oder nicht, jedenfalls bestand er darauf, die Kinder in die Koranschule zu schicken. Er wollte, dass sie unsere Religion besser kennen lernten. Ich fand das in Ordnung und war seiner Meinung (nicht dass er mich danach gefragt hätte). Sie sollten von unserer Religion erfahren und nach islamischen Werten erzogen werden. Also hat Mustafa unsere drei größeren Kinder jedes Wochenende in die Moschee gebracht. Dort haben sie Samstag und Sonntag zusammen mit anderen Kindern den Koran studiert. Natürlich konnten sie unser Buch nicht gleich lesen. Am Anfang hat der Hoca einzelne Suren vorgelesen, und alle Kinder mussten ihm nachsprechen. So haben sie die einzelnen Suren ständig wiederholt, und am nächsten Tag mussten sie sie auswendig aufsagen. Das war schon ziemlich anstrengend, vor allem für unsere Birgül, die ja gerade erst fünf Jahre alt war. Aber sie war diejenige, die sich am leichtesten tat. Ganz schnell lernte sie die arabischen Worte, und später, als sie in der Schule lesen gelernt hatte, konnte sie sogar die arabischen Schriftzeichen lesen.
Sie war unser ganzer Stolz. Wenn die Großfamilie sich an den Wochenenden zum Essen traf und alle am Tisch saßen, war sie meistens diejenige, die das Gebet sprach. Dann stand die kleine Birgül auf und sagte: »Bismillahi, Rahmani Rahim... « , sie dankte Allah, dass die ganze Familie anwesend war und man gemeinsam essen könne. Was für ein erhebender Moment. Sie war überhaupt ein gutes Kind. Nie hat sie widersprochen, immer gemacht, was man ihr sagte. Schimpfwörter hörte man von ihr nie. Dass sie die Koranschule hasste, habe ich erst viel später erfahren. Damals ist sie ohne zu murren fünf Jahre lang jedes Wochenende in die Moschee gegangen. Folgsam trug sie ihr Kopftuch und lernte eifrig die Suren des Koran. Der Unterricht begann um zehn Uhr und dauerte bis zwei Uhr. Zwischendrin machten sie eine Pause, in der die Kinder etwas zu essen bekamen und spielen konnten. Das haben diese wohl immer besonders genossen.
Unser Familienleben hatte sich – abgesehen von einigen Aussetzern – eingespielt. Morgens gingen die großen Jungen in die Schule, nachdem sie die kleine Schwester in den Kindergarten gebracht hatten. Besonders Muhammed kümmerte sich rührend um Birgül. Er war in der dritten Klasse, und die Grundschule war auf demselben Grundstück wie der Kindergarten. So kam er in den Pausen oft zu ihr und fragte sie, ob alles in Ordnung sei oder sie Ärger mit jemandem habe. Er war ihr Beschützer. Aber Birgül hatte nie Probleme. Sie war ohne ein Wort Deutsch zu können mit knapp vier Jahren in den Kindergarten gekommen und hatte die Sprache mühelos gelernt. Meine großen Söhne taten sich schwerer. Ihnen fehlten ja entscheidende Jahre hier in Deutschland. Besonders Muhammed hatte Schwierigkeiten gehabt, die Sprache zu lernen. Für Can war es nicht ganz so schwer. Aber die ersten Jahre in der Schule waren auch für ihn nicht leicht gewesen. Für den kleinen Ali war es vermutlich am einfachsten. Ihn hatten wir nie alleine in die Türkei geschickt, immer war er in der Familie gewesen und hatte seine zweisprachigen Geschwister um sich. Vor allem Birgül spielte viel mit ihm und trug ihn die meiste Zeit wie eine Babypuppe herum. Ja, sie wickelte und fütterte ihn sogar. Sie war so, wie ablas , große Schwestern eben zu sein hatten. Als Ali in den Kindergarten kam, sprach er Deutsch fast so selbstverständlich wie Türkisch.
Mein Deutsch war inzwischen ganz passabel geworden. Ich konnte mich verständlich machen, nur Lesen und Schreiben beherrschte ich immer noch nicht. Als Can in die Schule gekommen
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