Michelle Obama – Ein amerikanischer Traum
haben. Doch oft lassen diese Mediengeschichten das kritische Mitdenken vermissen. Sie erwecken den Eindruck, als hätten sich die Autorinnen und Autoren von ihrer Bewunderung forttragen lassen oder von ihrem Stolz, am Hochglanzbild der neuen First Lady mit polieren zu dürfen.
Es scheint zum Beispiel niemandem in den USA bisher aufgefallen zu sein, dass Barack Obama den Namen seines Schwiegervaters konsequent falsch schreibt. Er nennt ihn «Frasier», aber er hieß «Fraser». Er verlegt dessen Tod in ein falsches Jahr und irrt auch mit der Zeitangabe, wann er Michelle kennenlernte. Das alles mag mit erklären, warum das Büro der First Lady so ungern auf Medienanfragen reagiert, die das Ziel haben, Fakten zu klären. Jede Präzisierung bringt das Risiko mit sich, eine Kette von Nachfragen zu provozieren.
Völlig abweisend sind die Medienbeauftragten der First Lady freilich auch nicht. Sobald sie ein gewisses Vertrauen zu einem Journalisten aufgebaut haben, ermöglichen sie ihm den Zugang zu ausgewählten Terminen oder rücken Informationen heraus, die nicht allgemein zugänglich sind. Generell sind sie freilich eher zugeknöpft. Die Erfahrung mit der Michelle-Berichterstattung im Wahlkampf hat sie offenbar misstrauisch gemacht. Zum Medienstab der First Lady gehören zudem nur wenige Menschen, die ein großes Arbeitspensum bewältigen müssen. Da bleibt wenig Zeit zur Erfüllung von Sonder wünschen.
Alles in allem deutet nichts darauf hin, dass Michelle in absehbarer Zeit von sich aus dazu beitragen möchte, die Widersprüche aufzuklären, die sich um einige ihrer Lebensstationen und Selbstauskünfte ranken. Im Gegenteil, sie fügt auch als First Lady neue hinzu. In ihrer Rede vor der Abschlussklasse einer Washingtoner High School am 3. Juni 2009 sagte sie zum Beispiel, sie bedaure es sehr, dass sie und Barack keine Gelegenheit gehabt hätten, eine Fremdsprache zu lernen. Das ist erstaunlich. Michelle hatte viele Jahre Französischunterricht: in der Mittelschule, an ihrer High School und in den Collegejahren in Princeton. Barack wuchs dreieinhalb Jahre lang in Djakarta auf und besuchte den Großteil der Zeit eine staatliche indonesische Schule. Auch er hatte also Gelegenheit, eine Fremdsprache zu lernen.
Angesichts solcher Beobachtungen sollte man nicht darauf setzen, dass Interviews mit Michelle zu einem klareren Bild führen. Größeren Erkenntnisgewinn verspricht die kritische Nutzung der vorhandenen Informationen.
Und damit kann die Führung durch ihr Leben beginnen. Come on, let’s go!
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Das kleine Mädchen aus Chicago
«Tief im Innern bin ich noch immer das kleine Mädchen, das in der South Side von Chicago aufwuchs.»
Michelle Obama in ihrer typischen Wahlkampfrede
Michelles Familiengeschichte ist noch nicht sehr weit erforscht. Doch weiß man genug, um sagen zu dürfen: Es ist eine zutiefst amerikanische Geschichte. In ihr bündeln sich gleich mehrere wichtige Entwicklungslinien und biografische Muster, die die Vereinigten Staaten geprägt und zu der politischen wie ökonomischen Supermacht von heute geformt haben – von der Plantagenwirtschaft und Sklaverei im Süden über die Industrialisierung des Nordens, die eine millionenfache Wanderungsbewegung auslöste und die Entstehung einer schwarzen Arbeiterklasse mit sich brachte, bis zu den Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen, in deren Konsequenz sich unter vielen Rückschlägen und Leiden allmählich eine schwarze Mittelklasse, Bürgergesellschaft und afroamerikanische Oberschicht heraushob.
Selbst das Dunkel, das ihre familiären Wurzeln umgibt, ist typisch für die USA. Ihre Familienhistorie ist keine Geschichte von Palästen. Eher ist man versucht, an Onkel Toms Hütte zu denken. Es ist nicht die Geschichte Amerikas, wie sie in den Schulen gelehrt wird, mit Washington, Jefferson, Franklin und den anderen Gründungsvätern. Ihre Vorfahren gehörten nicht zu den Herrschergeschlechtern oder den Familien, die die wirtschaftliche Macht ausübten. Sie waren mehr Objekte als Subjekte des Geschehens. Aber das galt für die große Masse der Einwohner Nordamerikas im 18. und 19. Jahrhundert und selbst noch über weite Strecken des 20. Jahrhunderts. Die schriftlichen Quellen waren damals begrenzt, nur ein kleiner Teil davon wurde aufbewahrt. Und ein Großteil der Erinnerung durch mündliche Überlieferung starb meist mit dem natürlichen Tod der abtretenden Generationen oder
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