Mick Jagger: Rebell und Rockstar
soll nicht heißen, dass der später Mr. Sex Machine genannte Sänger keine heiße Show abgezogen hätte. Doch so fantastisch er auch gewesen sein mag, sein Auftritt war eingebettet in einen Kontext, er stand in einer Reihe ähnlich famoser Shows, wohingegen die etwas linkischen und eingeschüchterten Stones etwas noch nie Dagewesenes auf die Bühne gebracht hatten. Eine Mischung aus männlich und weiblich, vertraut und fremd; sie sprachen das Publikum direkt an, sie ließen niemandem Zeit nachzudenken, man konnte sich dem nur völlig hingeben. Patti Smith, die für das Creem -Magazin als Gastautorin schrieb, erinnerte sich in einem dort veröffentlichten Beitrag Jahre später an das Ereignis:
»Der Sänger zeigte seine zweite Haut, und das war mehr als ein Milchbubi zu bieten hat. Ich konnte mit einer Röntgenbrille in seine Hose blicken. Da war eine Menge hartes Fleisch. Da war jemand läufig. Fünf weiße Jungs, so sexy wie es nur Schwarze sein können. Ihre Nerven lagen blank und ihr drittes Bein richtete sich auf. Sechs Minuten und fünf Sekunden dieses betörenden Anblicks bescherten mir mein erstes feuchtes Jungfrauenhöschen … die abgöttische Liebe zu meinem Vater war das Erste, was ich Mick Jagger opferte … Männlichkeit wurde nun nicht mehr auf dem Football-Feld gemessen.« Patti Smith war damals noch ein junger rebellischer Teenager aus New Jersey, ein braves katholisches Mädel. Der Auftritt der Stones in der T.A.M.I. Show öffnete ihr die Augen für Neues.
Technisch gesehen konnte sich die Performance der Stones natürlich nicht mit Browns unglaublicher Akrobatik messen. Als Erstes spielten sie »Around and Around«; der hagere Mick trug ein dunkles Jackett und schlug im Takt gegen das Mikrofon. Er wirkte amüsiert angesichts des völligen Tumults, der um ihn herum ausgebrochen war. Schon bald zeigte er wieder das typisch süffisante Lächeln, als wolle er sagen: »Das war doch gar nicht so schlecht.« Brian wirkte eher unterkühlt. Keith sah aus wie ein Freak. Charlie und Bill wirkten wie zwei Wasserspeier in der Ausbildung. Die Stones drosselten das Tempo für »Time Is on My Side«, eine Nummer, die sie während der vorangegangenen Tour aufgenommen und mit der sie jetzt einen Hit gelandet hatten. Es folgte »It’s All Over Now«. Mick, der nun richtig in Fahrt gekommen war und seinen Spaß hatte, sang statt »She hurt my eyes open« »She hurt my nose open«. Seine Angst und seine Nervosität wirkten sich in ganz ungewohnter Weise auf seinen Körper aus. Immer wieder sprang er in die Luft und funktionierte seinen Mikroständer dabei gewissermaßen in einen Sprungstab um. Er tanzte mehr als üblich; man kann sehen, wie er mit seinem Körper experimentiert. Vielleicht war genau dies die Geburtsstunde des Mick Jagger, wie ihn alle kennen. In dieser Konkurrenzsituation schaffte er es, mit James Brown mitzuhalten, indem er selbst zu James Brown wurde. Er war nicht perfekt. »Mick machte sich zu einem James-Klon, mit all der Tanzerei und Springerei«, meint auch Steve Binder. Zum Schluss stimmten die Stones »It’s Alright« von Bo Diddley an, eine nicht ganz perfekte Coverversion, bei der Mick ein paar Rumbakugeln schwingt. Und bei »Let’s Get Together«, dem großen Finale der Show, kamen alle Stars zusammen mit den Tänzern zu ihnen auf die Bühne. Schwarze und Weiße, junge und nicht ganz so junge – es hatte eine enorme symbolische Wirkung. James Brown allerdings glänzte wieder einmal durch Abwesenheit. In seiner Autobiografie gibt sich der Godfather of Soul jedoch großmütig, geradezu brüderlich zollt er den Stones Respekt und gesteht freimütig, dass er in ihnen »die Zukunft« gesehen habe.
Paradoxerweise war es Mike Love, der nie darüber hinwegkam, an diesem Tag vor den Stones auf der Bühne gestanden zu haben. Fünfundzwanzig Jahre später, als sowohl die Stones als auch die Beach Boys in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurden, pöbelte Love sichtlich angetrunken auf dem Podium: »Ich hätte gerne gesehen, wie Mick Jagger es heute hier auf der Bühne mit ›Jumpin’ Jack Flash‹ gegen ›I Get Around‹ aufnehmen muss. Ich weiß, dass Mick Jagger heute Abend nicht hier sein kann, weil er in England sein muss. Aber ich hätte mir gut vorstellen können, dass wir im Coliseum auftreten und er im Wembley Stadion, weil er immer eine Scheißangst davor gehabt hat, mit den Beach Boys auf einer Bühne zu stehen.« Jedoch hatten sich die Stones diesem Duell schon längst
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