Mick Jagger: Rebell und Rockstar
den Teenagern, die schon lange misstrauisch beäugt wurden, wenn sie zu mehreren unterwegs waren und aussahen, als seien sie auf Ärger aus, tatsächlich jedoch nur Schutz vor der Kälte, etwas zu essen und eine Toilette suchten. Der Vorfall wurde zu einem beispielhaften und heroischen Ereignis hochstilisiert, er wurde als der nächste logische Schritt betrachtet, nachdem man die Jugendlichen schon aufgrund ihrer Kaufkraft nicht mehr ignorieren konnte: Die Teenager wollten nun auch wirklich respektiert werden. »Andrew beobachtete, wie sich die Stones gegen das Angepasste und Spießige auflehnten und die Beatles im Gegensatz dazu unter der Fuchtel von Brian Epstein standen«, so Altham, »und er erkannte, dass es durchaus einträglich sein konnte, ihnen ihren Willen zu lassen. Und dann erkannte er – und das machte einerseits sein Genie aus, andererseits war es seine Achillesferse –, dass sich diese Pose überzeichnen ließ und man die Stones als Helden der Arbeiterklasse inszenieren konnte. Das waren sie nicht – noch nicht. Noch waren sie Mittelklasse-Kids, die gegen die Normen ihrer bürgerlichen Herkunft aufbegehrten.«
Die Idee, dass sie sich quasi wie die Kains zu den von den Beatles verkörperten Abels verhalten sollten, geisterte schon lange in den Köpfen der Stones herum, war aber nie konsequent umgesetzt worden. Jetzt war es soweit: Die Beatles urinierten an den dafür ausgewiesenen Orten. Die Stones machten, was sie wollten. Die Beatles traten auf Wunsch der Queen im Palast auf. Die Stones hätten es vorgezogen, den Palast zu stürmen. Nach dem rebellischen Bekenntnis »Wir pissen, wo wir wollen« konnten sich auch vermehrt junge Männer für die Stones begeistern. Wie zu den Konzerten der Beatles kamen auch zu ihren Zuschauer beiderlei Geschlechts, doch die Songs der Stones mitzugrölen, wird den jungen Herren nun vermutlich leichter gefallen sein. Bei einem Stones-Gig völlig auszuflippen, war schon fast so etwas wie ein Initiationsritus, eine Art Treueeid, der beim Eintritt in eine Gang zu leisten ist.
»Das, was Oldham als Manager tat, war, all das, was ungenutzt in den Stones schlummerte, extrem aufzubauschen. Er hielt sie dazu an, ihre Langhaarigkeit, ihre Aggressivität und ihre anarchistische Attitüde maßlos zu übertreiben und machte aus ihnen all das, was Eltern am meisten hassten und wovor sie sich am meisten fürchteten. Ständig spornte er sie an, sich in jeder Hinsicht noch wilder, fieser und verdorbener zu geben. Und sie taten es. Sie fluchten rum, machten sich über vieles lustig, fletschten die Zähne, und so erarbeiteten sie sich mit voller Absicht das Image übler Kretins«, schreibt der britische Journalist Nik Cohn in seiner Essaysammlung AWopBopaLooBop ALopBamBoom . »Das funktionierte nach den einfachsten psychologischen Prinzipien: Wenn die Kids sie zum ersten Mal sahen, waren sie sich vielleicht nicht sicher, was sie von ihnen halten sollten. Aber sobald sie hörten, wie sich ihre Eltern aufregten über diese Bestien, diese dreckigen, langhaarigen Schwachköpfe, standen sie auf ihrer Seite und identifizierten sich voll und ganz mit ihnen.«
Oldhams nächster Geniestreich war ein Slogan: »Würdest du deine Schwester mit einem Rolling Stone ausgehen lassen?« Es war die Headline zu einem Artikel, der in dem damals sehr einflussreichen (und inzwischen leider eingestellten) britischen Musikmagazin Melody Maker erschien. »Der Titel ist ein hervorragendes Beispiel für das Zustandekommen einer Bedeutung auf dem Weg des Productplacements«, schreibt Oldham. »Ich hatte von der Zeile ›Würden Sie Ihre Tochter mit einem Rolling Stone ausgehen lassen?‹ geträumt, doch die Hohepriester der Fleet Street machten daraus ›Würden Sie Ihre Tochter einen Rolling Stone heiraten lassen?‹, weil sie die anstößigen Konnotationen fürchteten, die der Begriff ›ausgehen‹ mit sich brachte … Die Zeile wurde zur Headline und zugleich zu einem der vielen Slogans, die den Rolling Stones ein Leben lang anhaften.« Die Vorstellung von einer artigen, jungfräulichen Britin, die einen mürrischen, ketterauchenden, zu ein bisschen Wohlstand gelangten, Negermusik liebenden sexsüchtigen Flegel mit nach Hause brachte, löste eine Panik aus, die – auf der privaten Ebene – durchaus mit der Angst vor den Kommunisten vergleichbar war. Es war ein Hit ohne Musik.
Im Vergleich zu allen anderen British-Invasion-Bands erweckten die Stones den Eindruck, sich am wenigsten von ihrer
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