Mick Jagger: Rebell und Rockstar
drauf.«
»Irgendwann fühlte Truman sich nicht mehr richtig zugehörig«, erinnert sich Rudge. »Es ging ziemlich wild zu, und auch mitten in der Nacht wurde es immer wieder sehr laut. Er war nicht mehr jung. Er dachte sich: ›Es ist drei Uhr früh und die Leute spielen immer noch verrückt. Wie soll ich mich hier wohlfühlen?‹«
Hinzu kam, dass sich Capote bald die Frage stellte, warum er überhaupt einen Artikel schreiben sollte. Er fand, dass es bei The Muses Are Heard um etwas gegangen war: Hier hatte ein echter kultureller Austausch stattgefunden, es hatte auf beiden Seiten unterschiedliche Auffassungen zu den Themen Erotik, Rasse und populäre Musik gegeben, was ihm viel Stoff geboten hatte. Die Stones-Tour von 1972 wirkte auf alle, die nicht gerade fünfundzwanzig und drogenabhängig waren, wie eine endlose, liederliche Party. Dem enttäuschten Schriftsteller war schnell klargeworden, dass das nichts anderes als pure Dekadenz war, und das war nun wirklich nichts, was sein Neugier noch fesseln konnte.
Auch die Stones wussten nicht so recht, was sie mit Capote anfangen sollten. Nur ihr texanischer Saxofonist Bobby Keys schien ihn zu beeindrucken. Vielleicht konnte Keith sogar nachvollziehen, warum er so distanziert war, nichtsdestotrotz legte er es hin und wieder darauf an, ihn zu ärgern. Eines Nachts hämmerte er an seine Tür. »Keith sagte: ›Komm mit, wir feiern oben eine Party‹«, berichtete Capote Jahre später in einem Interview mit dem Rolling Stone . »›Ich bin müde, ich hatte einen langen Tag. Den hattest du auch, und ich denke, du solltest auch ins Bett gehen.‹ ›Ach, komm vorbei und schau dir an, was bei Rockbands wirklich abgeht.‹ ›Ich weiß, was bei Rockbands wirklich abgeht, Keith. Ich muss nicht heraufkommen, um es mir anzusehen.‹ Anscheinend hielt er eine Flasche Ketchup in der Hand. Er hatte einen Hamburger und eine Flasche Ketchup und er schleuderte beides gegen meine Zimmertür.«
Über den angekündigten Nachfolger zu Kaltblütig, Erhörte Gebete , war bereits länger schon das Gerücht in Umlauf, dass der Text wohl ein Fragment bleiben würde. Capote war sich darüber im Klaren, was es bedeutete, wenn er ein weiteres Werk nicht zum Abschluss bringen würde. Schon als man ihn Ende der 60er nach seinen Fortschritten mit Erhörte Gebete gefragt hatte, hatte Capote – schon lange nicht mehr der umtriebige Bürgerschreck mit dem feurigen Blick, der er in den 50ern und frühen 60ern gewesen war – geseufzt und erklärt, dass der Roman zu »zwei Dritteln« fertig sei. Manch einer behauptete allerdings, Capote hätte noch kein einziges Wort zu Papier gebracht. Nach der Furore um seinen Roman Kaltblütig und der erfolgreichen Verfilmung seines Kurzromans Frühstück bei Tiffany hatte sich die 20th Century Fox die Filmrechte an dem neuen Werk gesichert. Jetzt forderten sie die Rückzahlung ihres Vorschusses, der angeblich zweihunderttausend Dollar betragen haben soll. Auf Tour mit den Stones mutierte der Schriftsteller unter dem wachsenden Druck, der auf ihm lastete, allmählich zu einem unausstehlichen Giftzwerg. »Er war dicht bis oben hin«, so Greenfield. »Niemand wusste davon, aber er nahm verschreibungspflichtige Medikamente. Anfangs konnte er den anderen auf der Tour gar nicht nah genug auf den Pelz rücken, er war ein echtes Plappermaul. Aber dann verwandelte er sich in einen der niederträchtigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe – wirklich jedem gegenüber war er unfassbar gehässig.«
Truman Capote war zwanzig Jahre älter als der damals achtundzwanzigjährige Mick Jagger, er war kein Kind der Rock’n’Roll-Ära, aber er hörte gerne das, was er »Beat-Musik« nannte. Man kann sich leicht vorstellen, dass er keine Geduld mit dem Rockstar hatte. Jagger, der gerne Akzente imitierte, spielte seinerzeit mit Vorliebe die Rolle des amerikanischen Südstaatlers; von daher war der in New Orleans geborene Capote natürlich sein Mann.
Jagger gab sich damals auch ganz gerne einen schwulen Touch, und Capote war einer der wenigen Prominenten, die sich öffentlich zu ihrer Homosexualität bekannt hatten. Höchstwahrscheinlich verstand Capote nur zu gut, worum es Mick ging, sodass er kein Interesse daran gehabt haben dürfte, sich ihm zu öffnen. Vieles, was er hier miterlebte, war ihm ja nicht wirklich fremd, immerhin war auch er mit Anfang zwanzig berühmt geworden. Sein Porträt auf dem Schutzumschlag zu Andere Stimmen, andere Räume löste einen kleinen
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