Mick Jagger: Rebell und Rockstar
lassen? Und falls dem tatsächlich so sein sollte, warum vollzog sich dieser Wandel ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Hatte Mick kommen sehen, dass die Stones im weiteren Verlauf der 70er mit voller Kraft auf eine kreative Krise zusteuerten, und dass sie jede Hilfe, die sie bekommen konnten, gut gebrauchen würden?
THE
BALLAD
OF A
VAIN MAN
KAPITEL 12
D er Unterschied zwischen einem Hit, der bis ans Ende aller Tage tagtäglich im Radio gespielt wird, und einem Hit, den man nie wieder zu hören bekommt, nachdem er aus den Charts verschwunden ist, liegt wahrscheinlich darin, dass wir den einen immer wieder neu hören können. Denn die meisten Hits, die Bestand haben, bleiben immer ein bisschen rätselhaft. Wir fragen uns beispielsweise, was alles in dem Song steckt oder wodurch er inspiriert wurde. Manch einer denkt in diesem Zusammenhang vielleicht an »In the Air Tonight« von Phil Collins. Songs wie diese sind rar, doch einer gehört zweifelsfrei dazu: »You’re So Vain«, Carly Simons Nummer-eins-Hit aus dem Jahr 1973, der bis heute immer noch ihr bekanntester Titel ist.
»You’re So Vain« klingt sogar ein bisschen düster, wenn man ihn auf sein musikalisches Grundgerüst reduziert:
Die einleitende Bassfigur vom deutschen Studiobassisten Klaus Voormann (der mit den Beatles befreundet gewesen war und als Grafiker das Revoler -Cover gestaltete, als Bassist hatte er die Fab Four bei ihren Soloprojekten unterstützt), der eigentlich nur seine Finger aufwärmen wollte.
Ein zischend geflüstertes »son of a gun«.
Die akzentuierten Akkorde einer Akustikgitarre, die zu düster klingen, um Gedanken an Kaffeehaus-Folk überhaupt aufkommen zu lassen.
Das Klavier, das die Gegenmelodie einführt.
Ein sanfter Schlagzeug-Beat, der für eine gedämpfte Stimmung sorgt.
Und dann die erste Zeile, in der die damals gerade siebenundzwanzigjährige Simon klingt, als sei sie des Lebens so überdrüssig wie Nick Carraway in F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby . Sie beobachtet einen mysteriösen Herren auf einer Cocktailparty, auf der alle weiblichen Gäste davon träumen, ihn abzuschleppen und sein Herz zu erobern: »And all the girls dreamed that they’d be your partner …« Den letzten Teil dieses Satzes wiederholt Simon zur Betonung, doch das ist eigentlich nicht nötig, denn die wehmütige »clouds in my coffee«-Bridge und der Refrain, den man nicht mehr vergisst, wenn man ihn einmal gehört hat, machen aus der Ballade einen Song für die Ewigkeit. Mick ist beim Refrain nach der zweiten Strophe zu hören. Die Backgroundsänger sind in den Credits zwar nicht namentlich aufgeführt, doch Jagger klingt unverkennbar durch. »Seine Stimme ist absolut durchdringend«, sagt Keith Altham. Dadurch dass der Stones-Sänger an dieser Aufnahme mitwirkte, ohne dass dies auch nur erwähnt, geschweige denn erklärt wurde, schossen die Spekulationen wild ins Kraut. »Wie hatte diese Newcomerin Mick Jagger dazu bringen können, auf ihrem Album zu singen?« Und nicht wenige fragten sich: »Ist er derjenige, der glaubt, dass es in dem Song um ihn geht?« Wäre »You’re So Vain« nur halb so schön gewesen und nur halb so meisterhaft arrangiert und eingespielt worden, hätte er trotzdem für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. Ganz abgesehen davon zeigt Jagger hier eine seiner besten Gesangsleistungen in den bisweilen ziemlich unspektakulären Jahren von Anfang bis Mitte der 70er.
Dieses Engagement markiert den Beginn einer langen Phase, in der sich Mick immer wieder unabhängig von den Stones musikalisch betätigt. In den nächsten fünfzehn Jahren singt er nicht nur einige Duette, sondern wirkt als Sänger auch mit auf Platten von John Phillips (an dessen lange in Vergessenheit geratenem Klassiker Pay Pack & Follow auch Keith Richards und Ron Wood mitgewirkt hatten), John Lennon (die funkige Nummer »Too Many Cooks«, die 1973 während einer Jamsession entstand und nur auf Bootlegs verfügbar ist), Bette Midler, Michael Jackson, David Bowie und Daryl Hall von Hall and Oates. Zehn Jahre nach Beginn seiner Karriere war Mick ein begehrter Gesangspartner. Er konnte vor allem richtig singen und Noten treffen, und er hatte ein Gespür dafür, wann er sich zurücknehmen musste.
© Rober Bamber /Rex USA
Mick Jagger, der von manchen unterschätzte Instrumentalist, spielt nicht nur Bluesharp – und zwar exzellent –, sondern auch Piano und Gitarre, 1973.
Mick Jagger und Carly Simon fanden einander aus einem ähnlichen Grund
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