Mick Jagger: Rebell und Rockstar
Material, es lag da rum und es plagte mich und ich dachte immer wieder: ›Hm, es wäre so einfach, was daraus zu machen.‹ Schließlich kam ich an den Punkt, an dem ich mich entschloss, dass ich es nicht machen würde, und das sagte ich ihm dann.« Wir können nur bedauern, dass sich Capote außerstande sah, sein großes Talent noch einmal zur Entfaltung zu bringen, um mit genialen Dialogen und schmerzlich genauen Beschreibungen von anatomischen Details und menschlicher Heuchelei eine umfangreiche Reportage zu krönen. Liest man The Muses Are Heard , so kommen einem angesichts der darin enthaltenen Detailverliebtheit fast die Tränen, wenn man sich vorstellt, womit er uns hätte beschenken können.
Sieben Jahre später, 1979, beauftragte der Rolling Stone Andy Warhol damit, seinen Freund für ein längeres Feature zu interviewen, wobei es im Wesentlichen um die Frage ging, warum Capote die Reportage über die Stones-Tour nie geschrieben hat. In diesem Artikel gibt es einen Absatz, der mehr Wahres über die Rolling Stones enthält, als Capote je hätte zu Papier bringen können: »Ich weiß einfach nicht wie es weitergehen soll. Weil ich nicht weiß, wie es mit den Rolling Stones weitergehen wird. Ich weiß nicht, ob diese spezielle Band oder das, was sie tut, mehr als ein oder zwei weitere Jahre überdauern wird. Ich glaube, Micks Karriere steht und fällt mit der Frage, ob er auch etwas anderes machen kann. Ich bin mir sicher, dass er weitermachen wird. Ich weiß nur nicht, in welchem Metier.«
Auch Robert Franks Film lag auf Eis. Ein Teil des Materials wurde zwei Jahre später für das Leinwandevent Ladies and Gentlemen, the Rolling Stones verwendet, ein Konzertfilm mit Quadrophonietechnik, der 1974 wegen der aufwändigen Soundtechnik wie eine Show durch amerikanische Kinos tourte. »Marshall Chess war klar geworden, dass sie Cocksucker Blues niemals veröffentlichen konnten. Schon damals hatten sie wegen ihrer Drogengeschichten in drei Ländern Einreiseverbot. Noch mehr Probleme brauchten sie wirklich nicht und es war auch nicht hilfreich, vieles von dem zu bestätigen, was gerüchteweise über die Stones erzählt wurde. Also fragte mich Marshall, ob ich irgendwas mit dem Material anfangen könne«, sagt der Ladies and Gentlemen -Regisseur Rollin Binzer. »Robert ist ein netter Kerl, er hatte die Dinge immer schon ein wenig von ihrer dunklen Seite her betrachtet.«
Da es keine aussagekräftige Dokumentation gab, bot sich die 72er Stones-Tour für die Legendenbildung jeglicher Art geradezu an, was dazu führte, dass die Stones wegen ihres Bad-Boy-Image jetzt noch berüchtigter waren als zuvor, wobei ihr Publikum nie erlebt hat, dass sie etwas Verwerfliches taten. Robert Frank und seine zweiköpfige Crew hielten jede großartige Konzertminute fest, ebenso wie die Ausschweifungen hinter der Bühne, aber auch, und das ist viel aufschlussreicher, die tödliche Langeweile des Tourlebens. Ja, Keith Richards und Bobby Keys werfen einen Fernseher vom Balkon des Continental Hyatt House in West Hollywood. Und ja, Mick und die Band jammen mit Percussion-Instrumenten in ihrem Privatjet, den alle nur »the Lapping Tounge« nannten, während ein Roadie und eine nackte Frau sich vergnügen. Aber die meiste Zeit über verbrachten sie die Tour mit Warten, mit Bestellungen beim Zimmerservice (»Haben Sie Äpfel? Heidelbeeren?«) und den Stunden vor und nach dem Soundcheck. Meistens sind es nicht die Drogen, die Bands platt machen oder sie dazu bringen, sich aufzulösen; es ist diese ganze Warterei.
Wenn Talkmaster ihn nach den Erfahrungen fragten, die er auf der Tour mit den Stones gesammelt hatte, gab Capote einige despektierliche Bemerkungen zum Besten und bezeichnete seine Studienobjekte verächtlich als »die Beatles«, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass alle britischen Rockstars austauschbar seien. Nichts davon jedoch war annähernd so entlarvend, wie es eine Reportage gewesen wäre, die im Stil von »The Duke in His Domain«, die ganze geballte Langeweile der Tour aufgezeigt hätte. Denn dadurch wäre das coole Image der Stones wirklich beschädigt worden, und zwar genau zu einer Zeit, als es darauf ankam, es zu untermauern. Ist Mick Jagger nun dafür verantwortlich zu machen, dass ein Wandel einsetzte, durch den die Medien Skandalen und fragwürdigen Nachrichten, ja selbst Meldungen vom Nichtzustandekommen eines Kunstwerks mehr Aufmerksamkeit schenken, als man es sich für das Kunstwerk selbst je hätte träumen
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