Mick Jagger: Rebell und Rockstar
einen aussichtsreichen Entzugsversuch zu starten. Es lag einfach an den Umständen. Da war das wachsende Unbehagen angesichts des weltweiten Ruhms und der damit einhergehenden Einschränkungen, die er für jedes Bandmitglied nach sich zog. Und dann kamen noch die privaten Tragödien hinzu, wie der Verlust seines Freundes Gram Parsons, der mit sechsundzwanzig Jahren an den Folgen einer Überdosis starb. Der plötzliche Kindstod seines Sohnes, den er und Anita Tara genannt hatten, tat für Keith ein Übriges, um sich für den Großteil der frühen bis mittleren 70er in den Drogenrausch zu flüchten.
Die Stones lebten noch immer im südfranzösischen Exil, doch nun verlegten sie ihre Operationsbasis vorübergehend nach Jamaika, wo sie an dem neuen Album arbeiten wollten, das später unter dem Titel Goats Head Soup auf den Markt kam. Doch ziemlich schnell sahen sie ein, dass es gar nicht so leicht war, den alten Zauber wieder heraufzubeschwören. »Ich glaube nicht, dass sich Mick und Keith einfach trafen und sich mit ihren Gitarren gemeinsam irgendwohin zurückzogen«, sagt Marshall Chess.
Mick plagte sich endlos mit einer Nummer ab, nur um sie später zu verwerfen; zehn Stunden später kam Keith dann torkelnd herein, schnappte sich seine Gitarre und fand einen Riff, der so ein Stück gelegentlich rettete (was beispielsweise bei »Coming Down Again« und »Heartbreaker« so gewesen war). Viel zu oft jedoch dümpelten die Songs uninspiriert vor sich hin. »Im Vergleich zu früheren Alben war Exile on Main Street vielleicht ein etwas schwächeres Album«, bemerkte der Musikkritiker Robert Palmer einmal, »aber verglichen, mit dem, was dann folgte, klingt es wunderbar klar und prägnant. Während Keith von seiner Drogensucht immer mehr beherrscht und geschwächt wurde und Mick versuchte, seinen gesellschaftlichen Pflichten und seiner neuen Rolle als Superstar gerecht zu werden, büßte die Musik der Stones ihren Zauber ein. Ihre nächsten drei Alben – Goats Head Soup (1973), It’s Only Rock’n’Roll (1974) und Black and Blue (1976) – sind ein einziges langatmiges Machwerk.« Wenn heute jemand Goats Head Soup auflegt (nur um es gesagt zu haben: dieses Album spaltet die Fans bis heute, und es gibt auch solche, die es lieben), dann wohl deshalb, um eine spezielle Atmosphäre zu schaffen. Nur selten dürfte jemand die Platte auflegen, um bewusst bestimmte Songs zu hören. Anders als ihnen vielfach vorgeworfen wird, sind sie keineswegs so den 70ern verhaftet, dass sie darüber hinaus keine Relevanz besäßen. Die Trilogie, die ihrer Rückkehr zur alten Form mit Some Girls vorausging, klingt auch heute hervorragend, aber es sind Charakteralben, »Stones«-Alben. Sie sind ähnlich großartig wie manch ein Jack-Nicholson- oder Robert-DeNiro-Film: Der Künstler selbst macht sie interessant und das Kunstwerk steht für eine faszinierende Zeit in der Geschichte des Genres. Anders als die Stones-Alben der späten 60er warten sie nicht mit einem Riesenhit nach dem anderen auf. Sie sind vergleichbar mit Beruf: Reporter oder New York, New York , nicht mit Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst oder Taxi Driver .
1973 waren die Stones nicht mehr dieselben wie ein paar Jahre zuvor: Sie alle waren reich und berühmt, und auch wenn sie nicht mehr ganz so brillant spielten und komponierten wie früher, sahen sie in ihren Schlapphüten immer noch wunderbar dekadent aus. Doch das war nicht alles, auch ansonsten hatten sich die Zeiten geändert: Mit Glamrock, Reggae und der experimentellen und frühen elektronischen Musik aus Deutschland, für die die britische Musikpresse den Begriff Krautrock prägte, wurde den Kritikern und Musikfans inzwischen etwas völlig Neues geboten. Die Motown-Hitfabrik, aus deren Fundus sich die Stones in ihren Anfangstagen reichlich bedient hatten, war von Detroit nach Los Angeles umgezogen und produzierte derart komplexe Popsongs, dass sie diesbezüglich nicht mehr mithalten konnten. Aufgrund dieser Komplexität war für sie nicht einmal daran zu denken, diese Nummern zu covern. Kollegen wie Stevie Wonder, David Bowie und Marvin Gaye stellten die Stones mit extrem ambitionierten und visionären Veröffentlichungen in den Schatten. Die eben noch größte Rock’n’Roll-Band der Welt versuchte nicht einmal, damit zu konkurrieren.
»Das war’s, wir sind fertig.« Mit diesen Worten wurde Mick zum Ende der überaus erfolgreichen 72er Stones-Tour zitiert. »Es war zweifellos die am meisten gefeierte
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