Mick Jagger: Rebell und Rockstar
und am meisten besprochene Tour, die es je gegeben hat«, sagt Chris O’Dell. »In gewisser Weise markiert sie den Beginn einer neuen Ära. Sie hatten in Sachen Konzerttourneen Maßstäbe gesetzt, und die meisten Bands orientierten sich an ihrem Vorbild. Womöglich ging damit aber auch ihre verrückte Zeit zu Ende. Danach wurden sie wieder ein bisschen ruhiger.« Dass nun von ihnen erwartet wurde, den großen Triumph von 72 zu überbieten, muss dem pragmatisch denkenden Rockstar wie eine verrückte Spinnerei vorgekommen sein. Angesichts des elenden Zustands, in dem sich Keith befand, hielt er das für völlig ausgeschlossen. Die Band, der er einst zwei Jahre gegeben hatte, hatte ein ganzes Jahrzehnt überdauert; jetzt musste sie ihre Ansprüche überdenken. Sein dreißigster Geburtstag stand kurz bevor. Etwas Gutes abzuliefern, würde immer noch vollkommen reichen. Nichtsdestotrotz erkannte er immer noch ein Talent, wenn er eines hörte, und mehr denn je fühlte er sich zu denen hingezogen, die richtig hoch hinauswollten.
© Michael Ochs Archives
Carly Simon bei einem Auftritt 1972.
Carly Simon nahm ihr drittes Album No Secrets in den Londoner Air Studios auf. Als Produzenten hatte sie Richard Perry engagiert. Der größte Teil der Instrumentalspuren für den wichtigsten Song des Albums, der inzwischen den Titel »You’re So Vain« trug, war bereits auf Band. Perrys Freund und Kollege Harry Nilsson (Perry hatte im Jahr zuvor Nilssons Erfolgsalbum Nilsson Schmilsson produziert) kam vorbei und half, den Backgroundgesang zu »You’re So Vain« miteinzusingen. Nilsson war auch gerade im Studio, als Carly Simon einen spontanen Anruf von Mick Jagger erhielt. »Mick sagte, er sei in der Gegend, und ich lud ihn ein, vorbeizukommen. Er war dann auch sehr schnell da.« Als Mick hörte, woran Simon und Perry gerade arbeiteten, wollte er mitmischen; Nilsson nahm er nur als potenziellen Konkurrenten war. »Mick mag es nicht, wenn ihm andere ins Gehege kommen«, erinnert sich Carly Simon. »Wenn da noch ein anderer Hahn ist, gesellt er sich zunächst zu ihm, um ihn dann bei erster Gelegenheit zu vertreiben. Gott weiß, warum er mich als die Henne betrachtete, für die er das tun musste.« Zuerst arbeitete er mit Nilsson und Simon zusammen, aber nach drei Takes erklärte ein frustrierter Nilsson: »Leute, offensichtlich kommt ihr auch ohne meine Unterstützung gut klar«, und ging seiner Wege. »Harry hat sich verabschiedet«, erinnert sich Carly Simon. »Möglicherweise brauchte er einen Drink oder so was.« Obschon Mick nur den Refrain mitsingt, wirkt sein kleiner Beitrag zu »You’re So Vain« ungeheuer überzeugend, und zwar derart, dass der Backgroundsänger einem das Gefühl vermittelt, er wisse nicht nur was es bedeute, Erzähler, sondern auch Protagonist des Songs zu sein. Seine Stimme ergänzt die von Carly Simon in einer Art und Weise, dass man durchaus auf die Idee kommen kann, zwischen den beiden wäre es zu mehr als einer beglückenden musikalischen Zusammenarbeit gekommen. Auf jeden Fall klingt ein großes Einfühlungsvermögen durch. »Sein Beitrag ist fantastisch«, sagt Carly Simon. »Er ist so markant. Er macht den Song zu etwas wirklich rundum Gelungenem.« Micks Backgroundgesang inspirierte sie dermaßen, dass sie ihre Melodiestimme später noch einmal neu einsang.
Micks Mitwirkung an »You’re So Vain« wird nirgendwo erwähnt und Mick selbst sprach auch nie darüber. »Wir haben über das Thema gesprochen«, so Simon. »Er meinte, es würde die ganze Sache interessanter machen, wenn er unerwähnt bliebe. Es würde noch ein bisschen geheimnisvoller werden.«
1972 war es unnötig, die Hörer extra darauf aufmerksam zu machen, dass Mick Jagger an der Aufnahme beteiligt war. Als sich der ausgebuffte Selbst-Promoter anbot, den Part des Backgroundsängers zu übernehmen, war ihm freilich bewusst, dass sein Name damit unwiderruflich mit dem Sphinxrätsel der Popmusik verbunden war, nämlich der Frage, ob dieser Song möglicherweise von ihm handelt. »Viele Leute glauben, ich singe über Mick Jagger und hätte ihn irgendwie ausgetrickst, damit er mitsingt, sie glauben, ich hätte ihn zum Narren gehalten«, sagte Simon 1973 in einem Rolling Stone -Interview. In »You’re So Vain« geht es nicht um Mick Jagger. Wie sie mir erklärte, könne er schon deshalb nicht infrage kommen, eben weil er an der Platte mitgewirkt hat. Mick ist also nicht der Mann mit dem apricotfarbenen Schal. Nichtsdestotrotz
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