Mickey Haller 04 - Der fünfte Zeuge
zu verhandeln. Die Frage nach berechtigten Zweifeln an der Schuld des Angeklagten spielt dabei noch keine Rolle. Nicht einmal ansatzweise. Der Richter hat lediglich darüber zu befinden, ob die Glaubhaftmachung der Beweise die Anklagepunkte stützt. Ist dem so, ist der nächste Schritt ein richtiger Prozess.
Für Freeman ginge es bei der Vorverhandlung darum, gerade genügend Beweismaterial herauszurücken, um diese Glaubhaftmachungsschwelle zu überschreiten und sich das zustimmende Nicken des Richters zu holen, ohne dabei einen Totalausverkauf zu betreiben. Denn sie wusste, ich würde alles, was sie vorlegte, auf Herz und Nieren prüfen.
Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die angebliche Last der Anklage gar keine Last ist. Obwohl einer Vorverhandlung der Gedanke zugrunde liegt, der Justiz eine gewisse Kontrolle aufzuerlegen, damit der Staat den Einzelnen nicht einfach niederwalzen kann, steht der Ausgang von vornherein fest. Dafür hatte die kalifornische State Assembly zu sorgen gewusst.
In ihrer Frustration über die scheinbar endlose Dauer der sich mühsam durch das Rechtssystem schleppenden Strafsachen waren die Politiker in Sacramento zur Tat geschritten. Laut gängiger Meinung ist verzögerte Gerechtigkeit verweigerte Gerechtigkeit, selbst wenn diese Einstellung in krassem Widerspruch zu einem Grundbaustein des kontradiktorischen Rechtsprechungsystems steht – einer starken und nachdrücklichen Verteidigung. Die State Assembly umging dieses kleine Ärgernis und beschloss eine Reihe von Maßnahmen zur Vereinfachung des Verfahrens. Die Vorverhandlung, bis dato eine umfassende Offenlegung der Beweise der Anklage, wurde in der Praxis zu einem Versteckspiel degradiert. Außer dem leitenden Ermittler mussten nur wenige Zeugen aufgerufen werden, auf Hörensagen basierende Aussagen wurden eher gebilligt statt mit Skepsis aufgenommen, und die Anklage musste nicht einmal die Hälfte ihrer Beweise vorlegen. Nur gerade genug, um damit durchzukommen.
Das hatte zur Folge, dass eine Strafsache nur in den seltensten Fällen die Kriterien der Glaubhaftmachung nicht erfüllte und die Vorverhandlung zu einem routinemäßigen Absegnen der Anklagepunkte auf dem Weg zum Prozess verkam.
Trotzdem hatte diese Regelung auch für die Verteidigung ihren Wert. Ich erhielt nach wie vor Einblick in das, was mich erwartete, und die Gelegenheit, Fragen zu stellen, welche Zeugen und Beweismittel präsentiert würden. Und darin bestanden meine Vorbereitungen. Ich musste vorwegnehmen, welche Karten Freeman aufdecken würde, und mich entscheiden, wie ich gegen sie spielen würde.
Eine Einigung im Strafverfahren stand nicht zur Debatte. In diesem Punkt waren bislang weder Freeman noch meine Mandantin zu einem Kompromiss bereit. Wir steuerten unaufhaltsam auf einen Prozess zu, und ich könnte nicht behaupten, dass ich darüber unglücklich war. Wir hatten eine realistische Chance, und wenn Lisa Trammel sie nutzen wollte, sollte es nicht an mir scheitern.
An der Beweismittelfront hatten wir in den letzten Wochen sowohl Fortschritte als auch Rückschläge zu verbuchen. Wie erwartet, entschied Richter Morales entgegen unserer Anträge, das Polizeiverhör und die Durchsuchung von Lisa Trammels Haus beim Prozess zuzulassen. Damit war für die Anklage der Weg frei, ihre Beweisführung auf die drei Säulen Motiv, Gelegenheit und die Aussage der einzigen Augenzeugin zu stützen. Sie hatten die Zwangsversteigerung. Sie hatten Lisas Proteste gegen die Bank. Sie hatten ihre belastenden Aussagen bei der Vernehmung. Und vor allem hatten sie die Augenzeugin, Margo Schafer, die behauptete, Lisa wenige Minuten nach dem Mord in unmittelbarer Nähe der Bank gesehen zu haben.
Aber wir entwarfen eine Verteidigungsstrategie, die diese Säulen ins Wanken brachte und zahlreiche Beweise vorlegte, die entlastenden Charakter hatten.
Bisher war keine Tatwaffe ermittelt oder gefunden worden, und der verzweifelte Versuch der Anklage, den Nachweis zu erbringen, dass ein winziger Blutfleck auf einer Rohrzange von der Werkbank in Lisas Garage von Mitchell Bondurant stammte, war kläglich gescheitert. Selbstverständlich würde die Anklage diesen Punkt bei der Vorverhandlung oder beim Prozess nicht zur Sprache bringen, aber ich konnte und würde es tun. Es ist Aufgabe der Verteidigung, der Staatsanwaltschaft die falschen Fährten und die Fehler bei den Ermittlungen um die Ohren zu hauen. Da kannte ich keine Hemmungen.
Zudem hatte mein Ermittler Informationen
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