Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Juli, dem Nationalfeiertag, im Junipero Serra Park gehen - jenem Park, in den ich auch als kleiner Junge schon öfter gefahren war, als ich noch ein vollwertiges Mitglied von Mutters Familie war. Als wir im Park ankamen, half ich, die Behälter und Tüten voller
Köstlichkeiten zu tragen. Ich wusste aber nicht, wo ich sie abstellen sollte. »Wo soll ich das denn alles hin tun?«, fragte ich in die Runde.
»David, stell's einfach irgendwo hin«, sagte Rudy.
»Aber die Tische stehen doch alle schon voll mit Sachen von anderen Leuten«, jammerte ich.
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Lilian trat neben Rudy und sie legten ihre Hände ineinander. »Ja, David. Das sehen wir«, sagte Lilian.
»All diese Leute hier sind unsere Familie.«
Ich sah mir die vielen Dutzend Erwachsenen an, die da Sodawasser und Bier tranken. Überall rannten Kinder herum, die Fangen spielten. »Wow! All diese Leute hier sind eure Kinder?«, fragte ich ungläubig.
Plötzlich kreischte eine Frau auf. Beinahe hätte ich mich wieder in mein schützendes Schneckenhaus zurückgezogen, als diese Frau in ihren komisch aussehenden klobigen Holzschuhen hektisch auf mich zulief. »Mom! Dad!«, schrie sie. Dann versuchte sie, Lilian und Rudy gleichzeitig zu umarmen. Ich starrte ihr ins Gesicht. Sie hatte absolut keine Ähnlichkeit mit Mr.
oder Mrs. Catanze.
Lilian weinte, als sie ihre Nase putzte. Dann gab sie ihr Taschentuch an die Frau weiter und schloss einen kurzen Moment die Augen, um die Fassung wiederzugewinnen. »David, das hier ist Kathy, eines unserer allerersten Pflegekinder.«
Jetzt wurde mir endlich alles klar. Ich wandte den Kopf nach links und rechts und machte große Augen, als lange Schlangen von Leuten zu Rudy und Lilian strömten, um sie zu begrüßen.
»Außerdem, Mom und Dad - ich hab' einen Job. Ich bin verheiratet. Ich besuche die Abendschule und das hier
... ist mein kleines Baby!«, verkündete Kathy stolz, als ein bärtiger Mann ein in eine gelbe Decke gewickeltes Baby in Rudys weit geöffnete Arme legte. »Ach, Mom und Dad, ich freue mich ja so, euch zu sehen! «, sagte Kathy weinend.
Ein kleiner Haufen Erwachsener umringte die Catanzes. Ganze Kinderschwärme sprangen auf und ab, 86
erheischten schreiend Aufmerksamkeit. Man führte Babys vor und umarmte sich. Nach ein paar Minuten verabschiedete ich mich aus der Menge und ging zum Rand des Hügels. Dort setzte ich mich hin und beobachtete die Flugzeuge, die vom nahe gelegenen Flughafen aufstiegen.
»Echt cool, nich?«, sagte eine vertraute Stimme.
Ich drehte mich um und sah Big Larry.
»Jedes Jahr dasselbe, aber immer mehr Leute. Ich glaub', man kann sagen, sie haben Kinder wirklich gern.
Meinste nicht auch?«, fragte Larry.
»Wow! Da müssen ja mehrere hundert Leute hier sein! «, rief ich aus. »Bist du schon mal hier gewesen?«
»Ja, letztes Jahr. Und du?«
Ich hielt einen Augenblick inne, um einen Jumbo Jet zu beobachten, der seine Flügel nach Westen neigte.
»Als ich noch ein kleines Kind war... « Ich nahm mich selbst zurück, weil ich nicht sicher war, ob ich wirklich etwas sagen wollte. Ich hatte schon so lange so viel für mich behalten. Ehe ich fort fuhr, räusperte ich mich.
»Meine Eltern - meine echte Mutter und mein echter Vater - führten meine beiden Brüder und mich immer in diesen Park, als wir noch klein waren.« Ich lächelte.
»Wir verbrachten dann den ganzen Tag da unten, spielten und schaukelten... «
Ich schloss die Augen und sah Ron, Stan und mich als glückliche Kinder mit strahlenden Gesichtern. Ich 87
fragte mich, wie es ihnen wohl in diesem Augenblick erging ...
»Dave! Hey, David! Erde an David, bitte kommen!«, brüllte Larry, indem er seine Hände zu einem Trichter formte. Er tat so, als hätte er ein Megaphon vor dem Mund.
»Tut mir Leid«, antwortete ich automatisch. »Ich glaube ... ich glaub', ich geh' jetzt mal spazieren.«
Nachdem ich Lilian um Erlaubnis gebeten hatte, schlenderte ich auf dem gepflasterten Weg den Hügel hinab. Ein paar Minuten später fand ich mich auf demselben Rasenstück wieder, auf dem ich schon viele Jahre zuvor gestanden hatte. Damals gehörte ich noch zur perfekten Familie. Jetzt war ich zwar immer noch ein Kind, aber schon eines auf der Suche nach der Vergangenheit. Ich ging zur Schaukelanlage und setzte mich auf eine der kleinen schwarzen Schaukeln. Ich trat in den Sand und füllte mir ein wenig davon in die Hacken meiner Schuhe. Meine Gedanken begannen erneut zu wandern.
»Hey, du da, willst du hier spielen,
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