Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Einkaufstüten bepackt kehrten Lilian und ich nach Hause zurück. Ich strahlte über das ganze Gesicht, als ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir schloss. Dann breitete ich alle Kleidungsstücke so sauber wie möglich auf meinem Bett aus. Als Nächstes ordnete ich die Hemden nach Farben und faltete meine Unterwäsche und die Strümpfe richtig zusammen, bevor ich sie im Schrank verstaute. Ein paar Sekunden saß ich am Fußende des Bettes, ehe ich die Schubladen wieder aufriss und meine Sachen nochmals neu ordnete. Nach der vierten Wiederholung öffnete ich die Schubladen noch einmal langsam und nahm so behutsam, wie ich konnte, ein dunkelblaues Hemd heraus. Meine Hände zitterten. Ich atmete den Duft der Baumwolle ein. »Ja!«, sagte ich mir, »das hier sind meine Sachen!« Sachen, die niemand je zuvor berührt oder getragen hatte. Keine Lumpen, wie sie Mutter mir aufgezwungen hatte, keine Sachen, die sie mir aus Mitleid geschenkt hatte, nachdem
91
sie sie schon seit letztem Weihnachten gehortet hatte, und auch keine Sachen von Tante Mary, die schon andere Pflegekinder vor mir getragen hatten.
»Ja! «, schrie ich markig. Dann riss ich ohne weiteres Nachdenken nochmals die Schubladen auf und warf alle Sachen abermals aufs Bett. Ich brauchte ewig, um alles wieder einzuräumen. Aber das war mir egal - denn das Ganze machte mir großen Spaß.
Einige Tage später legte Lilian in der Küche den Telefonhörer wieder auf. Es war Mittagszeit. Sie rief mich vom Fernsehapparat weg und fragte: »Na, wie geht's dir heute?«
Achselzuckend sagte ich: »Ganz gut, glaube ich.«
Dann riss ich die Augen weit auf. »Hab' ich was falsch gemacht? Kriege ich Ärger?«
»Nein, nein«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
»Übrigens, lass das mal. Warum sagst du das immer, wenn dir jemand eine ganz einfache Frage stellt?«
Ratlos schüttelte ich den Kopf. Ich verstand, was sie sagte, aber ich wusste nicht, warum ich mich ständig bedroht fühlte, wenn jemand mir eine Frage stellte.
»Das weiß ich nicht. «
Lilian nickte. »Dann lass uns doch jetzt einfach was zu Mittag essen, nur wir zwei. Larry junior lassen wir aus dem Spiel. Einverstanden?«
Ich begann zu strahlen. »Na klar doch!« Ich war gern mit Mrs. Catanze allein. Dann hatte ich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
Lilian machte sich ein paar Wurstsandwiches, während ich mich auf eine Tüte Kartoffelchips stürzte.
92
Zunächst warnte sie mich nur vor zu hastigem Essen, aber dann
befahl sie mir, langsamer und manierlicher zu essen.
Ich gehorchte. Ich raffte nicht mehr alles Erreichbare zusammen und schlang nicht mehr alles hastig herunter. Ich lächelte sie an und zeigte ihr, dass ich wirklich auch mit geschlossenem Mund kauen konnte.
Mrs. Catanze schien ihr Sandwich betont langsam zu essen. Ich wollte sie gerade schon fragen, warum sie so langsam kaute, als ich ein lautes Klopfen an der Tür hörte. Ohne nachzudenken, rief ich: »Ich geh schon zur Tür! « Immer noch kauend raste ich die Treppe hinab und öffnete die Tür. Sekundenbruchteile später verschluckte ich mich fast an meinem Essen. Mein Kopf blockierte. Ich konnte mich von diesem Anblick nicht mehr lösen: Da stand sie!
»Na, willst du uns gar nicht hereinlassen?«, fragte Mutter mit freundlicher Stimme.
Hinter mir konnte ich hören, wie Lilian schnell die Treppe herunterkam. »Guten Tag ... ich bin Lilian Catanze. Wir haben heute schon miteinander telefoniert. Wir waren gerade noch beim Essen.«
»Aber Sie haben doch ein Uhr gesagt, nicht wahr?«, fragte Mutter fordernd.
»Mhm ... ja, das habe ich gesagt. Kommen Sie bitte herein«, sagte Lilian.
Mutter marschierte herein, in ihrem Schlepptau die jungen. Als letzter kam Stan herein, der mich angrinste, als er mein Fahrrad ins Haus schob. Dieses Rad hatte mir meine Großmutter letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem mir Mutter erlaubt hatte, Fahrrad zu fahren, sogar zweimal. Ich hatte nie zuvor auf einem Fahrrad gesessen, und so fiel ich
93
mehrmals hin, ehe ich den Dreh heraus hatte. Doch am Ende jenes Tages fuhr ich über einen Nagel, und dann hatte ich einen platten Vorderreifen. Als Stan jetzt das Fahrrad in Lilians Haus schob, konnte ich sofort erkennen, dass beide Reifen einen Platten hatten und dass am Fahrrad auch einige Teile fehlten.
Aber das war mir ganz egal. Das gelb und magentarot lackierte Murray-Rad mit dem metallicroten Sattel war mein liebster Besitz. Ich war regelrecht
Weitere Kostenlose Bücher