Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
ich bin sicher, dass er nur versucht, dir zu helfen ... «
»Nein!«, platzte ich kopfschüttelnd heraus. »Er stellt keine Fragen wie Sie oder Ms. Gold, sondern krankhafte. Etwa, wie hat es sich angefühlt, auf dem Gasherd versengt zu werden? Und er hat gesagt, es sei ganz in Ordnung, meine Mutter zu hassen«, sagte ich, die Stimme des Arztes nachahmend. »Wenn er in meiner Nähe ist, weiß ich nicht, was ich sagen oder tun soll. Er ist so seltsam. Er ist derjenige, der Hilfe braucht, nicht ich! Der ist ja selber krank! «
»Ist das der Grund, warum du letzte Woche so aufgebracht warst? Hat er dich letztes Mal auch schon so behandelt?«, fragte Lilian.
Ich nickte. »Ich weiß einfach nicht. Ich fühl' mich so dumm, so klein. Ich meine, ich weiß doch, was mit Mutter passiert ist, und ich war im Unrecht, und ich versuche wirklich, das alles zu vergessen. Ich meine, vielleicht ist meine Mutter ja krank. Ich weiß, es ist der Alkohol, aber was ich wissen muss, ist doch dies: Bin ich auch krank? Werde ich auch so enden wie sie? Ich will's einfach wissen. Ich möchte doch nur wissen, warum alles so gekommen ist, wie es passiert ist. Wir 124
waren doch mal die perfekte Familie. Was ist bloß passiert?«
Nachdem ich auf diese Weise Dampf abgelassen hatte, streckte ich mich auf dem Beifahrersitz aus. Lilian beugte sich zu mir herüber. »Geht's dir jetzt besser?«
»Ja, Madam«, antwortete ich. Sie startete das Auto.
Ich spürte, wie ich langsam einschlief. Ich hielt mir den rechten Arm direkt über dem Handgelenk fest und strengte mich an, noch ein wenig länger wach zu bleiben. »Mrs. C, ich möchte da nie wieder hin –
niemals!«, sagte ich. Und dann wurde mir schwarz vor Augen.
In den folgenden Tagen blieb ich allein in meinem Zimmer. Dann fragte mich Big Larry, ob ich ihm beim Kegeln zusehen wolle. Ich sagte gerne ja, und so begaben sich mein großer Pflegebruder und ich erneut auf eine Abenteuerreise. Wohin die Reise ging, fand ich erst heraus, als wir schon unterwegs waren und mit den Fahrrädern durchs nahe gelegene Daly City fuhren.
Larry und ich fuhren die kleinen Straßen bergab, die zum Parkplatz der ThomasEdison-Grundschule führten.
Ich bremste mein Fahrrad etwas ab, als ich den Kindern beim Spielen in den Schaukeln zusah. Ich rutschte, bis ich stand, und atmete den Geruch der frischen Tannenbaumrinde ein. Es schien schon Ewigkeiten her zu sein, seit auch ich als Kind in den Pausen glücklich auf demselben Schulhof gespielt hatte.
Dichter Nebel schien über der Schule zu lauern, um sich alsbald herabzusenken. Die Umrisse der Kinder verschwammen, als der graue Nebel auch sie zu verschlingen schien. Nach ein paar Minuten konnte ich nur noch ihrem Lachen entnehmen, dass überhaupt Kinder da waren.
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Ich schüttelte die Gedanken an meine Vergangenheit ab, als ich mich mit meinem Fahrrad einen anderen Berg hinaufquälte, weg von meiner alten Schule.
Ungefähr zehn Minuten später hielten Larry und ich beim Sky-LineLebensmittelmarkt an - jenem Laden, in dem ich mir früher etwas zu essen gestohlen hatte, als ich in der Mittagspause von der Schule hierher gerannt war. Ich wich Larry nicht von der Seite, denn ich rechnete fest damit, dass mich irgendjemand erkennen würde. »Alles okay mit dir?«, fragte Larry, als wir an den Ladenregalen entlang schlenderten.
»Ja«, antwortete ich leise. Vorsichtig spähte ich jedesmal um die Ecken. Ich ging im Zeitlupentempo und hielt Larry am Gürtel zurück, damit auch er langsamer gehe. Schließlich befand ich mich hier auf Mutters Terrain.
»Hey, was ist los? Hast du Probleme?«, fragte mich Larry schließlich.
»Schscht! Hier habe ich früher gewohnt«, flüsterte ich.
»Wirklich? Cool!« sagte Larry, an einem Stück Obst-kuchen kauend, als wir wieder aus dem Laden heraus waren. »Hast du dich deshalb vorhin bei der Schule so komisch verhalten? «
»Ja ... wahrscheinlich«, antwortete ich.
Nachdem Big Larry zwei weitere Sahnekuchenstücke verdrückt hatte sowie ein paar Zuckerstangen und ein paar Sodas, fuhren wir weiter zur Kegelbahn. Die Fahrt die Eastgate Avenue hinauf wurde mir zu viel. Ich sprang vom Fahrrad und starrte die Straße hinab, als ich sie überquerte. »Halt mal an!«, kommandierte ich ohne Vorwarnung.
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Hinter mir keuchte Larry wie ein Hund. »Was ist denn los?«
»Tu mir einen Gefallen«, sagte ich. »Lass uns eine kurze Pause machen und diese Straße runterfahren.«
Der Atem aus seinem Mund bildete ein Wölkchen.
»Ja,
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