Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Pflegefamilien nötig sind, heißt das doch auch, dass sie zugeben, dass da ein größeres Problem ist, warum ihr Kinder überhaupt in Pflegefamilien müsst. Und das heißt, dass sie zugeben müssen, dass es Probleme wie 189
Alkoholismus und Kindsmisshandlung gibt, dass es Kinder gibt, die zu Hause weglaufen und in die Drogenszene geraten ... Verstehst du jetzt? Wir haben in den letzten Jahren eine Menge Veränderungen erlebt, aber wir leben noch immer in einer geschlossenen Gesellschaft. Viele Menschen sind so erzogen worden, dass sie alles für sich behalten und hoffen, dass niemand je hinter ihr Familiengeheimnis kommt. Manche von ihnen haben außerdem Vorurteile, und darum machen sie, wann immer ein Pflegekind in Schwierigkeiten gerät ... «
Lilians Aussage traf mich ins Mark. Sie lastete wie eine Tonne Ziegelsteine auf mir. Jetzt endlich verstand ich. Das Gummiband um meinen Brustkorb schien zu neuem Leben zu erwachen, als ich keuchend hervorstieß: »Äh ... früher ... als ich noch ganz neu bei Ihnen war ... und in Schwierigkeiten gekommen bin ... «
»Ja?« flüsterte Lilian.
»Ich hab' gehört, was Sie damals gesagt haben ...
aber ich hab' einfach nicht zugehört.«
Lilian umschloss meine Hände mit ihren Händen.
»Nun, das ist jetzt alles Vergangenheit. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, hier im Hill zu sein, besonders für dich, aber du musst dich hier absolut tadellos verhalten.
Und ich meine das so«, betonte sie. »Die Betreuer hier schreiben Berichte über dein Verhalten, die an deinen Bewährungshelfer weitergeleitet werden. Du hast Gordon Hutchenson doch schon kennen gelernt, oder?«
»Ja, Madam«, erwiderte ich.
»Diese Berichte können eine Menge gegen deine Mutter bewirken, wenn sie versucht, dich in einer Anstalt unterzubringen. Alles, was sie momentan in der Hand hat, ist ein Haufen Lügen - Lügen, die sie allen 190
möglichen Leuten aufgetischt hat. Deine Mutter hat dich so hingestellt, als wärest du ein verrücktes Kind - und eigentlich bist du das ja auch!«, scherzte Lilian. »Wenn wir also vor Gericht beweisen können, dass du das Feuer nicht gelegt hast und dass du hier ein mustergültiges Kind gewesen bist, dann kann deine Mutter einpacken - ein für alle Mal.«
»Ja, und was muss ich jetzt tun?«, fragte ich.
Lilian lächelte. »David, sei einfach du selbst. Das ist alles, was du tun musst. Versuche nie, jemand zu sein, der
du nicht bist. Die Leute hier durchschauen das in Nullkommanichts. Sei einfach der junge, der damals in mein Haus gekommen ist - bevor du in all diesen Schlamassel geraten bist. Aber«, warnte sie, »mach keine Fehler mehr. Explodiere nicht gleich, wenn du wütend wirst, und halt dein großes Mundwerk im Zaum. Hast du mich verstanden? «
Ich nickte nochmals.
»David, du hast deinen Kopf schon in der Schlinge.
Gott weiß, noch ein weiterer Vorfall, und du wirst bestimmt gehängt. Aber du hast in deinen zwölf Jahren schon mehr ausgehalten und überwunden als die meisten Leute in ihrem ganzen Leben. Und wenn du das gekonnt hast, ... dann schaffst du das hier auch.
Aber du musst jetzt einen guten Kampf kämpfen! Mach alles, was dir Mr. Hutchenson und die Betreuer hier sagen. Auch wenn dir das vielleicht komisch vorkommt, das ist mir egal. Ich kenne Gordon schon seit Jahren, und er ist der Beste. Also, denk gut und lange nach, ehe du was tust, was du später bereuen wirst. Alles klar?«
Als Mrs. Catanze meine Hände hielt, wollte ich ihr erklären, wie sehr ich bedauerte, dass ich ihr und ihrer 191
Familie so viel Scherereien gemacht hatte. Aber ich wusste, dass ich das bereits so oft gesagt hatte - und dass es mir damals eigentlich egal gewesen war.
Warum also sollte sie mir ausgerechnet jetzt glauben?
Ich sah ihr in die sanften Augen und wusste genau, dass ich der Grund ihrer schlaflosen Nächte und frustrierten Stunden war.
Lilian gab sich alle Mühe, mich breit anzulächeln.
»Ach, bevor ich's noch vergesse, ich hab' was für dich«, sagte sie. Ihre Hand verschwand in ihrer Handtasche. Sie zog eine kleine Pralinenschachtel heraus und strahlte, als sie mir den Karton herüberschob.
»Zuckerstangen?«, fragte ich.
»Mach doch einfach mal auf«, sagte Lilian und strahlte über das ganze Gesicht.
Sorgfältig öffnete ich den kleinen Deckel und stieß einen Freudenschrei aus, als ich meine kleine Rotohrschildkröte erblickte, die mir ihren Kopf entgegenstreckte. Vorsichtig nahm ich mein Haustier aus der Schachtel und setzte es mir auf
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