Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
Anwalt, als er auf seinen Platz zurückgekehrt war. Zu meiner Rechten räusperte sich nun ein weiterer Mann im dunklen Anzug, ehe er zu sprechen begann. Gordon beugte sich zu mir herüber und klopfte mir aufs Knie. »Ganz gleich was dieser Mann jetzt sagt, bleib bloß ruhig. Lächle nicht, beweg dich nicht und zeig keinerlei Emotionen.«
»Euer Ehren, in der Woche vom 10. Januar hat der Minderjährige David Pelzer nach langer und genauer Überlegung absichtlich einen Brand gelegt und versucht, einen Klassenraum in der Monte-CristoGrundschule... «
Langsam stieg Panik in mir auf und ergriff von meinem ganzen Körper Besitz.
»Dieser Minderjährige, Euer Ehren, ist schon häufig durch sein äußerst rebellisches Verhalten auffällig geworden. Ihnen liegt ein Schriftsatz vom Psychiater des Jugendlichen vor, ebenso die Aussagen der Lehrer des Minderjährigen und weiterer Mitarbeiter an der Monte-CristoGrundschule. Mir liegen auch Aussagen von der früher für den Minderjährigen zuständigen Sozialarbeiterin vor, in denen es heißt, dass >Davids Naivität zwar bezaubernd sein kann, dass er aber 195
bisweilen auch einer strengen Überwachung bedarf.
Selbst unter den sehr liberalen Bedingungen in seiner Pflegefamilie hat David gegenüber anderen ein aggres-sives Verhalten an den Tag gelegt. Außerdem hat er in seiner Pflegefamilie gelegentlich Streit gesucht und ein explosives Temperament gezeigt. < «
Ich sank in meinem Sitz zusammen. Dasselbe Gebäude, in dem mir einst die Freiheit geschenkt worden war, würde sich jetzt wohl als Ort meines Verderbens erweisen. Nach einer kleinen Ewigkeit dankte der andere Anwalt dem Richter für seine Aufmerksamkeit, bevor er sich wieder setzte. Dann nickte er Mutter zu.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte ich Gordon.
»Schsch ... «, erwiderte der warnend. »Reg dich nicht auf!
»Können Sie das widerlegen?«, fragte der Richter eher gelangweilt in meine Richtung.
»Euer Ehren«, sagte mein Anwalt stillvergnügt, als er sich erhob, »die Aussagen von Ms. Gold sind völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Ich bitte Euer Ehren, den ganzen Text zu lesen. Und was den Vorwurf der Brandstiftung betrifft, so beruht der Fall einzig und allein auf Indizien. David wurde zwar anfangs verdächtigt, den Brand gelegt zu haben, aber in meinem Besitz befinden sich Aussagen, welche die Tatsache bestätigen, dass David die Ausbreitung des Feuers verhindert hat, während das Feuer selbst von einem anderen Minderjährigen gelegt wurde. Was schließlich die Berichte über sein Verhalten während des Arrests angeht, so ist David, ich zitiere, >außerordentlich positiv< aufgefallen. Und was die Situation in der Pflegefamilie betrifft, so freuen sich die Catanzes auf Davids Rückkehr und hätten ihn lieber heute als 196
morgen wieder bei sich. Euer Ehren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.«
Der Richter machte sich ein paar Notizen, bevor er dem anderen Anwalt zunickte, der von seinem Platz aufsprang. »Euer Ehren, obwohl der Vorwurf der Brandstiftung bisher noch nicht erhärtet werden konnte, liegt bei dem Minderjährigen in der Tat ein festes Verhaltensmuster extrem dysfunktionalen Verhaltens vor. Zusätzlich liegt mir eine unterzeichnete eidesstattliche Erklärung von Mrs. Pelzer vor, der leiblichen Mutter des Minderjährigen, der zufolge der Minderjährige bereits mehrere Feuer im Keller seines früheren Wohnhauses gelegt hat. Mrs. Pelzer gesteht mit Bedauern ein, dass sie den Minderjährigen unter normalen Bedingungen nicht unter Kontrolle halten konnte und dass der Minderjährige äußerst aufsässig ist und zur Gewalttätigkeit neigt. Bitte revidieren Sie deshalb die vom März letzten Jahres datierte Anordnung zur Übertragung des Sorgerechts.
Euer Ehren, es ist, aus welchen Gründen auch immer, dramatisch offenbar geworden, dass dieser Minderjährige weder in der früheren Umgebung des elterlichen Wohnhauses noch in der jetzigen Pflegefamilie unter Kontrolle zu halten ist. Nach Ansicht des Landkreises stellt der Minderjährige für die Gesellschaft eine unzumutbare Belastung dar. Deshalb empfiehlt der Kreis, den Minderjährigen sofort einer psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen. Ziel einer solchen Begutachtung sollte die Klärung der Frage sein, ob die Einweisung in eine Einrichtung angezeigt ist, die auf seine Bedürfnisse optimal eingehen kann.«
»Was soll das alles bedeuten?«, fragte ich Gordon, als der Anwalt fertig war. Noch ehe mich Gordon zum 197
Schweigen bringen
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