Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

konnte, rieb sich der Richter die Schläfen und fragte: »Was meint die
    Bewährungshilfe?«
    Mr. Hutchenson knöpfte sich das Jackett zu, als er aufstand. »Die Bewährungshilfe beantragt, den Minderjährigen weiter genau zu beobachten und einen anderen Psychiater hinzuzuziehen. Ich habe nichts gesehen, was mich zu der Auffassung brächte, dass David für sich oder andere eine Bedrohung darstellt. Ich empfehle, David unter Amtsvormundschaft wieder bei seinen Pflegeeltern unterzubringen. «
    »Die sehnen sich wohl danach, sich das Leben endlos schwer zu machen?«, sagte der Richter stillvergnügt, ehe er fortfuhr. »Vorstrafen?«, fragte er, an meinen Anwalt gewandt.
    »Keine Vorstrafen, Euer Ehren«, sagte der Anwalt, indem er sich vorbeugte.
    Der Richter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Als er mich von oben anblickte, spürte ich, wie sich meine Nackenhaare aufrichteten. Mit der linken Hand kratzte ich mich am rechten Arm. Ich hielt den Atem an und wartete auf den Spruch des Richters. Dieser strich sich den Schnauzbart glatt. Plötzlich nickte er mit dem Kopf, wandte sich der Schreibkraft zu und diktierte: »Unter der Voraussetzung, dass sich der Vorwurf der Brandstiftung nicht durch neue Beweise bestätigt ...
    beantragt das Gericht eine Strafe von ... 100Tagen Jugendarrest, worauf die Untersuchungshaft anzurechnen ist.«
    »Und, außerhalb des Protokolls gesagt«, wandte sich der Richter an mich, »junger Mann, der Vorwurf der Brandstiftung ist eine sehr ernste Angelegenheit. Der einzige Grund, warum ich dich nicht verurteile, ist der, dass ich keine direkten Beweise habe. Es ist zwar 198

    möglich, dass du dieses Verbrechen nicht begangen hast, aber du bewegst dich schon eine ganze Zeit lang auf sehr dünnem Eis. Du scheinst auch gute Eigenschaften zu haben, und gute Berater und Helfer stehen dir bei«, sagte der Richter und nickte dabei Mrs.
    Catanze zu. »Aber ... du solltest auch so weise sein, in Zukunft von beidem regen Gebrauch zu machen. «
    Sofort nachdem der Richter mit seinem Hammer auf den Tisch geschlagen hatte, flüsterte Gordon mir zu:
    »In 30, 34 Tagen bist du wieder draußen. «
    »Aber ich hab's doch gar nicht getan«, jammerte ich.
    »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Gordon cool und sachlich. »Und darauf kommt es auch selten an.
    Glaub mir, Junge«, sagte er, auf den Richter zeigend,
    »der Mann da ist der reinste Weihnachtsmann. Wenn die Staatsanwaltschaft stichfeste Beweise gehabt hätte, müsste ich dich jetzt darauf vorbereiten, wie man in der Irrenanstalt eine Zwangsjacke trägt. Außerdem - der alte Mann da hat ein weiches Herz, wenn's um dürre kleine Bürschchen wie dich geht. Auf geht's, zurück in die Zelle, du Tier«, scherzte Gordon, als wir aufstanden.
    Plötzlich trat uns ohne Vorwarnung Mutter in den Weg. »Sie haben Unrecht! Sie sind total auf dem Holzweg! Sie werden's schon noch sehen! Ich hab'
    damals schon diese Schlampe von einer
    Sozialarbeiterin gewarnt, und jetzt warne ich Sie!«, kreischte Mutter los, während sie Mr. Hutchenson mit dem Finger vor der Nase herumfuchtelte. »Er ist schlecht! Er ist böse! Sie werden's noch sehen! Und nächstes Mal wird er jemanden verletzen! Je schneller man diesen Jungen zur Räson bringt, desto eher werden Sie sehen, dass ich Recht hatte und überhaupt nichts verkehrt gemacht habe! Sie machen sich selbst 199

    was vor, wenn Sie glauben, dass dies hier jetzt alles ist!
    Passen Sie gut auf? Für diesen Jungen gibt's nur einen Ort, wo er hingehört! Das werden Sie schon noch sehen!« Dann stürmte sie, Kevin hinter sich her zerrend, aus dem Raum.
    Langsam ging ich auf Gordon zu, dessen Gesicht kreidebleich geworden war. »Wo wohnt deine Mutter?«
    »Zu Hause«, antwortete ich.
    »Oh?«, fragte Gordon mit hochgezogenen
    Augenbrauen. »In dem Haus, das du in Brand gesteckt hast? Ich meine, wenn du den Keller angezündet hast
    ... dann musst du doch auch das Haus in Schutt und Asche gelegt haben. «
    »Ja«, lachte ich, als mir aufgegangen war, dass er nur einen Witz gemacht hatte.
    Vierunddreißig Tage später weinte ich dagegen, als ich meine Sammlung von Zeichnungen und
    Werkarbeiten und die Ordner mit meinen Schulsachen in einen kleinen Pappkarton packte. Es war ganz komisch, aber ich wollte eigentlich gar nicht fort. »Da draußen« war es für mich viel zu einfach, wieder Schwierigkeiten zu bekommen. In Hillcrest hatte ich mich gut an meine neue Umgebung gewöhnt. Ich wusste genau, was man von mir erwartete. Ich