Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
ausgestreckte Arme, ehe wir hinausfuhren zum Russian River. Und genau dieser Hügel schien jetzt mein Verderben zu sein. Meine Beine verhakten sich, mein Knie schrammte auf dem Bürgersteig entlang, und mit zusammengebissenen Zähnen ertrug ich den Schmerz.
Von oben konnten Carlos und ich jetzt kleine Gruppen von Erwachsenen und Kindern sehen, die in unsere Richtung zeigten. Ich musterte den Fahrzeugstrom der Autos, die vom Parkplatz kamen.
Ich konnte ja nicht wissen, in welche Richtung ich fliehen musste, bis ich Mutter entdeckt hatte. Nach einigen Fahrzeugwellen schüttelte ich den Kopf. »Sie ist weg! Sie ist nicht mehr da!«
Doch Carlos ergriff meinen wunden Arm. »Da!«, zeigte er. Mutters Lieferwagen hatte den Hügel in Nullkommanichts erklommen. Ich konnte die Wut in ihrem Gesicht erkennen, als sie wild hupte. Wegen des Gegenverkehrs konnte sie nicht nach links abbiegen.
Carlos und ich nickten einander zu, ehe wir über die Straße rannten, einen anderen Hügel hinauf zu Carlos'
Haus. Meine Energie schien aus dem Nichts zu kommen, und mit meinen Ohren nahm ich die 229
deutlichen Rumpelgeräusche der ausgeschlagenen Stoßdämpfer an Mutters uraltem Lieferwagen wahr.
Carlos und ich schossen die Treppe zu seinem Haus hinauf. Er wühlte in seinen Taschen und fummelte die Haustürschlüssel heraus. »Los, mach schon! «, drängte ich. Doch mit seinen zittrigen Fingern ließ Carlos die Schlüssel fallen. Obwohl ich hören konnte, wie sich Mutters Auto den Hügel hinaufquälte, stand ich da und betrachtete das Licht, wie es sich in den Schlüsseln widerspiegelte, die die Treppe hinabfielen. Schlüssel!
schrie ich mir selbst zu. Mutter hat gar kein Messer aus ihrer Handtasche geholt! Es war ein Schlüsselbund!
Carlos' Rufe weckten mich aus meiner Trance. Ich rannte schnell die Treppe hinab und warf Carlos die Schlüssel zu. Er stieß den Haustürschlüssel ins Schloss und die Tür auf. Auf Händen und Knien kroch ich die Treppe hinauf, rollte mich in Carlos' Haus und schlug die Tür zu. Es war niemand zu Hause. Wir krochen zum Vorderfenster, hielten uns aber ganz nahe am Boden und zogen die Gardinen nur einen winzigen Spalt zur Seite - so weit, wie wir uns trauten -, gerade in dem Augenblick, als Mutters Lieferwagen wie eine Rakete die Straße hinaufschoss. Carlos und ich begannen zu lachen. Aber dann hörten wir schon wieder das vertraute Geräusch von Mutters Auto, das die Straße hinabkroch, während sie in kurzen Abständen auf die Bremse trat und eifrig in jedes Haus spähte. »Sie sucht uns noch«, flüsterte ich.
»Si«, erwiderte Carlos. »Deine Mama, sie ist loca!«
Nachdem wir uns über eine Stunde lang hinter den Wohnzimmergardinen versteckt hatten, gingen Carlos und ich noch die Hälfte des Weges zu Jodys Haus gemeinsam. Wir grinsten uns an. Seine braunen Augen lächelten. »Genau wie bei ... äh, James Bondo! «
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»Ja«, lachte ich. »James Bondo!« Ich schüttelte ihm die Hand und nickte. Morgen würden wir uns wieder sehen. Ich sah ihm nach, wie er die Straße hinabschlenderte und dann hinter der nächsten Ecke verschwand. Ich habe Carlos nie wieder gesehen.
Ich rannte die Straße entlang, verschiedene Hügel hinauf, und machte erst Pause, als ich die Haustür von Jodys Haus zugeknallt hatte. Hinter der Tür musste ich erst mal mehrere Sekunden verschnaufen, bevor ich merkte, dass Vera und Jody sich in der Küche anschrien. Ich verfluchte mich selbst, denn inzwischen hatte sicher Mutter angerufen. Ich segelte an der Küche vorbei in mein Zimmer. Aber ich wusste schon, dass Jody bald laut nach mir rufen würde.
Jody hatte wohl einen Tipp gegeben, welche Pflegefamilie mich vielleicht für ein paar Tage aufnehmen würde.
Ich sackte in meinem Sitz zusammen und nickte mit dem Kopf. »Ja, ja«, sagte ich zu mir selbst, »wie oft habe ich das in letzter Zeit schon gehört?«
Ein paar Stunden später sprang ich aus dem Dienstwagen und direkt in Alice Turnboughs Wohnzimmer. Ich umarmte Alice von ganzem Herzen.
Ein paar Augenblicke später klopfte der Sozialarbeiter an die Verandatür, bevor er eintrat. »Sie kennen sich bereits?«, fragte er mit müder Stimme. Mein Kopf wackelte auf und ab wie der eines jungen Hundes.
»Mrs. Turnbough, ich äh ... Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber wir hatten eine Ausnahmesituation ...
Können wir David hier unterbringen ... wenigstens eine Zeit lang?«, bettelte er.
»Aber ich habe doch wirklich keinen Platz, und ich kann ihn doch nicht zu einem
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