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Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc

Titel: Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: jojox
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hatte ich mit dem Gefühl gelebt, dass Harold mich für ein sonderbares Bürschchen halten müsse. Nie schien er mit mir zu reden. Und wenn er doch einmal ein paar Worte in meine Richtung äußerte, versuchte er nur, mich zum Lesen zu bewegen und vom Fernsehapparat wegzubekommen. Jeden Abend nach dem Essen -
    man hätte die Uhr danach stellen können - zog Harold einen alten Western hervor. Dazu rauchte er seine Camels, und Punkt neun ging er zu Bett.
    Ich hatte sehr viel Respekt vor Harold, aber er wusste es nicht, konnte es auch nicht wissen. Er war Schreiner und mit Leib und Seele bei der Arbeit. Ich hoffte nun, dass ich lange genug bei den Turnboughs bleiben 236

    könnte, damit mir Harold ein paar handwerkliche Dinge beibringen könnte. Seit ich ein kleines Kind war, hatte ich davon geträumt, mir einmal selbst ein Blockhaus am Russian River bauen zu können, und so stellte ich mir jetzt vor, dass ich vielleicht mit Harold gemeinsam an einem Projekt arbeiten könnte, damit wir einander näher kamen. Vielleicht könnte ich mich dann, so dachte ich mir, ihm gegenüber beweisen.
    Am nächsten Tag bestieg ich, nachdem mir Alice lange gut zugeredet hatte, den Bus, um zu meinem neuen Psychiater, Dr. Robertson, zu fahren. Es stellte sich heraus, dass er das genaue Gegenteil des »Halbgottes in Weiß« war, den ich vorher besucht hatte. Er begrüßte mich mit Handschlag und sagte gleich, ich solle ihn mit seinem Vornamen, Donald, anreden. Seine ganze Praxis war in helles, warmes Sonnenlicht getaucht. Doch was mir am allermeisten bedeutete, war, dass Dr. Robertson mich wirklich als eigenständige Persönlichkeit behandelte.
    Bei meinen wöchentlichen Besuchen bei Dr.
    Robertson hatte ich nie das Gefühl, gezwungen zu sein, über irgendetwas zu sprechen. Vielmehr war es schon bald so, dass ich Gespräche über meine Vergangenheit anstieß. Ich fragte Dr. Robertson nach allem, auch danach, ob ich dazu verdammt sei, wie meine Mutter zu werden. Dr. Robertson versuchte stets, mich in eine andere Richtung zu lenken, aber ich kämpfte um die Beibehaltung meines lebenslangen Weges, selber nach Antworten auf meine Probleme zu suchen. Ich lernte, ihm zu vertrauen, als er mich sanft durch die heiklen, sensiblen Teile meiner Vergangenheit steuerte.
    Weil ich nicht locker ließ, empfahl mir Dr. Robertson einige grundlegende psychologische Bücher, die ich lesen könne. Und schon bald stritt ich mich mit Harold 237

    darum, wer die Leselampe am Ende des Sofas wann beanspruchen dürfe. Ich versuchte Bücher von Norman Vincent Peale über das Selbstwertgefühl zu lesen, aber auch andere, wie Wayne Dyers Your Erroneous Zones (Dt. Der wunde Punkt. Die Kunst, nicht unglücklich zu sein). Besonders faszinierten mich die grundlegenden Theorien von Dr. Abraham Maslow über
    Charakterzüge, die das Überleben sichern.
    Manchmal frustrierten mich die großen Worte und schwierigen Ausdrücke, aber ich kämpfte mich durch und entdeckte schon bald, dass ich, um überhaupt so weit zu kommen, wie ich in meinem Leben gekommen war, viel hatte leisten und bewältigen müssen. In meinem Innern gab es zwar immer noch Bereiche, die sich seltsam oder hohl anfühlten, aber ich merkte, dass ich viel stärker war als die meisten anderen Kinder in der Schule, die anscheinend in einer »normalen« Welt lebten.
    Bei Alice zu Hause merkte ich, wie ich mich ihr gegenüber völlig öffnen konnte, jederzeit. Manchmal redeten wir bis in die frühen Morgenstunden miteinander, ohne dass ich mir Sorgen darum machen musste, wie ich redete und was ich sagte. Immer wenn ich nervös wurde und zu stottern anfing, zeigte mir Alice, wie ich meine Gedanken verlangsamen konnte.
    Ich sollte mir einfach erst vorstellen, wie ich die Worte sagte, ehe ich sie dann tatsächlich aussprach.
    Innerhalb weniger Wochen waren meine Sprech- und Sprachprobleme verschwunden.
    Jeden Samstagnachmittag, nachdem Alice ihre Blas-musiksendung American Bandstand gehört und dazu getanzt hatte, machten wir beiden uns auf den Weg zu jenem Einkaufszentrum jenseits der
    Eisenbahnschienen, wo schon Mrs. Catanze mit mir 238

    Kleidung eingekauft hatte. Wir gingen dann ins Kino, und das war auch die einzige Möglichkeit, wie Alice mich dazu bewegen konnte, einmal länger als nur ein paar Minuten stillzusitzen. Wenn ich ruhig neben ihr saß, waren meine Hände allerdings ständig in Bewegung, während ich jede Szene genau betrachtete.
    In Gedanken versuchte ich, der Handlung immer einen Schritt voraus zu

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