Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
sagte Michael, als ich spürte, 257
wie meine Emotionen langsam die Oberhand gewannen. »Tag und Nacht sind Sandra und ich für dich da. Halt die Ohren steif, du Fallschirmjäger! Nimm dir was!«
Ehe ich in Harold Turnboughs uralten blau-weißen Chevy-Lieferwagen einstieg, räusperte ich mich und gab dann in Michael-Marsh-Manier folgende Verlautbarung von mir: »Vergießt keine Tränen.
Fürchtet euch nicht ... denn ... ich werde wiederkommen!« Als Mr. Turnbough und ich mit dem Auto den Duinsmoore Drive entlang fuhren, sah ich auch die Mutter des Mädchens, die mich so abgekanzelt hatte. Sie stand auf der makellosen Veranda an der Vorderseite ihres Hauses, die Arme straff vor der Brust verschränkt, und lächelte mich höhnisch an. Ich lächelte zurück und rief ihr laut zu:
»Ich liebe Sie auch!«
Etwa eine Stunde später stürmte ich durch Alice Turnboughs Verandatür. Nach einer flüchtigen Umarmung stieß sie mich von sich. »Dies ist aber das letzte Mal«, warnte sie mich. »Wenn dir hier was nicht passt, dann sag es jetzt, oder sei friedlich.«
Ich nickte, ehe ich sagte: »Ich weiß, wohin ich gehöre:
555-2647!«
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10. Kapitel
Aufbruch
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Mitte meines zweiten High-School-Jahres war ich endgültig frustriert und gelangweilt. Weil ich so viel hin und her gezogen war und niemals länger als einige Monate ununterbrochen die gleiche Schule besucht hatte, war ich nun in einer Klasse für Lernschwache gelandet.
Anfangs wehrte ich mich dagegen, aber dann entdeckte ich, dass jetzt nur noch sehr wenig von mir verlangt wurde. Inzwischen hatte ich alles Interesse am akademischen Lernen verloren, denn ich wusste ja: Meine Zukunft lag außerhalb der Schulmauern. Für eine ganze Reihe von Jobs investierte ich wöchentlich über 48 Arbeitsstunden, und ich glaubte, nichts von dem, was ich auf der High School lernte, sei im realen Leben zu gebrauchen.
Weiter beflügelt wurde mein Arbeitseifer durch die Tatsache, dass ich jetzt 17 war und mir damit nur noch weniger als ein Jahr in Pflegefamilien blieb. Schon während der letzten Doppelstunde des Schultages eilte ich von der Schule nach Hause zu Alice. Dann zog ich mich schnell um und hastete zu einem meiner verschiedenen Jobs: ins Schnellrestaurant oder in die Plastikfabrik, wo ich dann bis ein oder zwei Uhr 260
morgens arbeitete. Ich wusste allerdings, dass diese biologisch ungünstigen Arbeitszeiten
und der konstante Schlafmangel physisch ihren Tribut forderten. In der Schule hatten die Lehrer große Mühe, mich wach zu bekommen, wenn ich im Unterricht mal wieder fest eingeschlafen war. Die Kinder, die dann über mich lachten, waren nicht gerade meine Freunde.
Einige von ihnen benahmen sich hochnäsig und großspurig, wenn sie mich in Schnellrestaurants schuften sahen. Sie stolzierten herein, gaben mit - und vor - ihren Freunden oder Freundinnen sowie mit ihrer tollen Kleidung an. Sie wussten ja, dass sie niemals wie ich würden arbeiten müssen, um zu überleben.
Manchmal nutzte ich meine Freistunden, um zu meinem Englischlehrer, Mr. Tapley, zu gehen. Weil auch er dann Freistunden hatte, nutzte er seine Zeit meistens, um Arbeiten zu korrigieren. Dann pflanzte ich mich vor ihm hin, mit den Ellenbogen auf dem Tisch, und belästigte ihn mit einer endlosen Serie von Fragen über meine Zukunft. Er wusste, wie schwer ich zu kämpfen hatte, aber es war mir letztlich doch peinlich, ihm zu verraten, warum ich im Unterricht immer einschlief. Mr.
Tapley sah meistens von seinem Heftestapel auf, fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres Haar und gab mir mindestens so viele Ratschläge, dass ich motiviert war, mich am Wochenende wirklich in meine Hausaufgaben zu vertiefen.
Sosehr ich die Woche hindurch auch arbeitete, ich versuchte, wenigstens jedes zweite Wochenende frei zu bekommen, damit ich, wenn sich Gelegenheit böte, Vater in San Francisco besuchen könnte. Im Laufe der Jahre hatte ich bereits Hunderte von Botschaften für ihn 261
in allen Feuerwachen der Stadt hinterlassen. Doch Vater rief niemals zurück. Eines Nachmittags hatte ich dann wirklich genug, als abermals ein zögernder Feuerwehrmann versuchte, mich abzuwimmeln. »Ist dies die richtige Wache?«, ließ ich nicht locker. »Sagen Sie mir doch bitte, in welcher Schicht er arbeitet«, bat ich mit dringlich erhobener Stimme.
»Mhm ... Stephen arbeitet zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedlichen Feuerwachen. Wir sorgen dafür, dass er die Botschaft erhält.« Das waren die letzten
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