Microsoft Word - Pelzer, Dave - Der verlorene Sohn.doc
eröffnete mir eine vollkommen neue Welt. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich mich zu fragen, wie es wohl wäre, in einem echten Flugzeug mitzufliegen.
Vielleicht, dachte ich, kann ich's ja eines Tages wirklich...
Pauls Vater, Dan Brazell, war der große Mechanikus der Nachbarschaft, und er hatte dieselbe Wirkung auf mich wie Mr. Marsh. Zunächst beäugte mich Mr. Brazell argwöhnisch, doch schließlich hatte er nichts mehr dagegen, wenn ich ihm über die Schultern sah und jede seine Bewegungen genau beobachtete. Manchmal drangen Paul, Dave und ich in Mr. Brazells Garage ein und starrten ehrfürchtig die Projekte an, die da unter seinen magischen Händen aus dem Nichts entstanden.
Und immer, wenn sein Vater die Garage für ein paar Minuten verließ, marschierte Paul hinein. Dave und ich folgten vorsichtig, denn auf keinen Fall wollten wir irgendein Metallstückchen oder eines der bereitgelegten Werkzeuge durcheinander bringen.
Sobald jedoch das Garagentor aufging, machten wir drei uns aus dem Staube, ehe Dan uns erwischen konnte. Denn wir wussten, dass die Garage geheiligtes Territorium war, wo sich Dan, Michael und eine Reihe anderer Nachbarn zu ihren täglichen »Andachten«
versammelten.
Manchmal blickten mich bei diesen täglichen Ver-sammlungen einige der Männer aus der Nachbarschaft 255
finster an und äußerten vorwurfsvoll ihre Befürchtungen, dass »die Grundstückspreise in der ganzen Gegend sinken« könnten, weil die Walshs mit mir dorthin gezogen seien. Doch Mr. Marsh trat immer für mich ein. »Hört auf, Jungs«, sagte Michael einmal.
»Ich habe große Pläne mit meinem Ziehsohn hier. Ich wage die Prognose, dass Mr. Pelzer eines Tages ein neuer Chuck Yeager oder Charles Manson wird.*
Wie ihr seht, arbeite ich immer noch an den Details.«
Ich lächelte über das Kompliment. »Jawohl«, sagte ich trotzig, »Charles Manson!« Ich fühlte mich allerdings wie ein Dummkopf, weil mir in diesem Augenblick völlig entfallen war, wer Charles Manson eigentlich war: ein Fliegerass!
Meine Zeit in Duinsmoore war die schönste in all meinen Teenagerjahren. Nachts, wenn ich eines von Mr.
Marshs »geliehenen« Büchern gelesen hatte, schlief ich im Blütenduft ein, den die sanfte Brise von draußen hereingeweht hatte. Jeden Tag nach der Schule wartete ein neues Abenteuer auf mich, das meine beiden Freunde und ich nur noch entdecken mussten.
Mein Leben bei den Walshs verlief dagegen nicht so gut. Wüste Streitigkeiten gehörten inzwischen schon zum Alltag, und manchmal stürmten beide, John und Linda, aus dem Haus und ließen mich mit ihren Kindern allein.
* Anmerkung des Übersetzers: Berühmte Jagdflieger aus dem Zweiten Weltkrieg.
Manchmal versuchte ich die Kämpfe zeitlich so zu beeinflussen, dass ich mir, bevor John und Linda aufeinander einzuschlagen begannen, das jüngste Kind 256
griff und die beiden anderen bat, mir nach draußen zu folgen, bis sich die Lage wieder beruhigt hatte.
Doch so sehr ich die Nachbarschaft am Duinsmoore Drive auch liebte, ich wusste, dass ich es unter diesen Bedingungen in meiner Pflegefamilie nicht mehr lange aushalten würde. Ich hatte das Gefühl, dringend etwas unternehmen zu müssen. Schließlich rief ich nach einem explosiven Streit meine Bewährungshelferin, Mrs. O'Ryan, an und bat sie, mich anderswo unterzubringen, selbst wenn damit eine erneute Unterbringung im Hill verbunden wäre. Mrs. O'Ryan schien mit meiner Entscheidung sehr einverstanden zu sein. Sie meinte, sie könne wahrscheinlich sogar die Turnboughs überreden, mich nochmals bei sich aufzunehmen.
Aus Duinsmoore fortzugehen war eine der schwersten Entscheidungen, die ich bis dahin in meinem Leben zu treffen hatte. In nur wenigen Monaten, einem winzigen Bruchteil meines gesamten Lebens, hatte mir diese Nachbarschaft unheimlich viel gegeben.
Ganz bewusst wollte ich mich nicht groß verabschieden. Paul, Dave und ich waren untröstlich, aber wir ver-bargen unsere Gefühle hinter unserem Alter. Im allerletzten Augenblick umarmte mich Dave aber doch.
Mr. Brazell salutierte mit dem Schraubenschlüssel in der Hand, und Mr. Marsh schenkte mir ein Buch über Flugzeuge - genau das Buch, das ich schon Dutzende Male heimlich aus seinem Haus entführt hatte. »Damit du nicht bei mir einbrechen musst ... du Ganove! « Er schenkte mir außerdem eine Postkarte von Delta Airline mit seinem Autogramm. Er schrieb auch seine Adresse und Telefonnummer dazu. »Lass uns in Verbindung bleiben, Bohnenstange«,
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